Tijuana Blues
bitten, und dann werde ich nach Tijuana reisen, um die Vergangenheit zurückzuholen. Die deines Vaters und deine.«
»Alles, was Sie herausfinden, ist gut«, rief El Güero aus. »Was auch immer.«
»Du kannst zufrieden sein, wenn ich einen Teil der Wahrheit ans Licht bringe.«
Als er das Handy hinlegte, hatte er weniger Skrupel. Wenigstens waren die Regeln zwischen ihm und seinem Mandanten klar definiert. Jetzt musste man die Köder auswerfen und geduldig warten. Irgendwann würden die Fische anbeißen.
6
»Hast du das Fax bekommen?«, fragte Morgado.
»Es liegt vor mir. Ohne Übertragungsfehler.«
Harry Dávalos’ Stimme klang wie die eines Boxers, der es sich nicht leisten kann, die Deckung herunterzunehmen. Morgado verstand das. Aber ihm war klar, dass er bei diesem Unterfangen die Zeit, die menschlichen Ressourcen und das Material des FBI benötigte. Und die Hilfe Harrys.
»Ich werde dir einen offiziellen Brief schreiben, damit du keine Probleme bekommst.«
»Probleme bekomme ich auf jeden Fall, wenn du beteiligt bist«, unkte Dávalos.
»Wenn du irgendeine Information hast, schick sie an diese Nummer. Aber ich sage dir gleich, ich komme noch in dieser Woche nach Tijuana. Vielleicht können wir ja zusammen essen und über die schlechten alten Zeiten reden, mein Freund.«
»Welches Hotel?«, fragte Harry sofort.
»Im Lucerna. Zona del Río.«
»Ich melde mich«, lautete der Abschiedsgruß des FBI-Agenten.
»Was für eine Ehre, solche Freunde zu haben oder ein solcher Freund zu sein«, sagte Morgado in die tote Leitung.
Nachdem er aufgelegt hatte, nahm er sich die Fotos vor und ging sie zum hundertsten Mal durch. Er wählte drei aus: das von Timothy, Burroughs, Tercerero und der Mutter von Güero; das von den panamesischen Gangstern und das von Ginsberg. Mit ihnen ging er auf den Flur hinaus und klingelte an der Tür seines Nachbarn, eines Profi-Fotografen.
»Womit kann ich dienen?«
»Rogelio, ich brauche Vergrößerungen. Erstklassige Abzüge. Es sind alte Fotos.«
Rogelio Cueva sah sich das Bilderterzett an. »Wie hübsch!«, rief er begeistert aus. »Geschniegelte Schriftsteller und Könige der Unterwelt.«
Morgado war überrascht vom Scharfblick des Fotografen. »Hast du sie schon mal gesehen?«
Rogelio nickte wie ein Kind mit einem neuen Spielzeug. »Die beiden sind Gringos, oder? Beats oder so etwas. Sie haben sich alle natürlichen oder künstlichen Drogen reingezogen, die sie bekommen konnten. Es waren die ersten Hippies, als das noch keine Mode und María Sabina noch kein Star des New Age war.«
»Und die Gangster?«, fragte Morgado erwartungsvoll.
»Was für Gesichter! Als hätten sie zu viele Filme von Edward G. Robinson gesehen. Es fehlt nur die Narbe im Gesicht. Oder das Glasauge.«
»Aber …«, stotterte Morgado, »hast du eine Idee, um wen es sich handeln könnte?«
»Nein. Du?«
7
Seit das Flugzeug in Mexico City gestartet war, hatte Morgado alle Dokumente zu dem Fall noch einmal durchgesehen.
Burroughs’ Biografien zeichneten nicht dasselbe Bild, das El Güero von dem amerikanischen Schriftsteller hatte. Die Biografen hielten ihn für die Vaterfigur der künstlerischen Avantgarde des Landes: für einen Schriftsteller, der alle Regeln brach und dabei keinen Schiffbruch erlitt. Successful war das meistgebrauchte Adjektiv bei der Beschreibung des Werks. Ein achtzigjähriger Jim Morrison, der noch schrie: I want the world and I want it now.
Aber der alte Mann war kein love-and-peace- Idealist. Die Romane, die Morgado angelesen hatte, offenbarten seine Faszination für Gewalt, Sex als Machtspiel und Feuerwaffen. Er war, wie viele Amerikaner, ein mächtiger Prediger, ein Hypnotiseur, der ständig neue Opfer brauchte. Opfer wie Joan, seine Frau. Wie Timothy.
Morgado drückte auf die Knöpfe, um zu sehen, was an Filmen geboten war; weil keiner ihm zusagte, legte er die Kopfhörer wieder an ihren Platz und schaltete den Bildschirm aus. Er wollte einen Blick in das Buch werfen, das ihm seine Freundin Aidé Grijalva geliehen hatte, El otro México. Er ging das Inhaltsverzeichnis durch und begann mit dem Tijuana gewidmeten Kapitel.
Er war überrascht von der Fähigkeit des Autors Fernando Jordán, das Leben an der Grenze einzufangen. »Von Tijuana sieht man nur eine Straße, die nächtliche Straße, wo auf ein Cabaret eine Bar folgt, auf die Bar ein Geschäft mit gefälschten Antiquitäten, auf dieses ein weiteres Cabaret, auf dieses eine Bar, auf dieses ein
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