Tijuana Blues
darauf wartete, dass jemand abhob, sagte er zu Morgado: »Nun, genau das hat er mit seiner mexikanischen Familie getan. Sobald er erfuhr, dass er Vater wurde, hat er den nächstbesten Notausgang gesucht.«
»In diesem Fall würde ich eher sagen, den am weitesten entfernten«, sagte Morgado. »Die Hauptstadt und Tijuana liegen ein gutes Stück auseinander.«
»Hallo, hallo«, sagte Leobardo ins Telefon. »Wissen Sie, ob Professor Vizcaíno schon da ist? Ja. Ah. Nein! Stören Sie ihn nicht. Danke.« Damit legte er auf. »Das ist Ihr nächster Schritt: ein Gespräch mit Professor Rubén Vizcaíno Valencia, Mister Tijuana. Das wandelnde Handbuch über alles, was Sie schon immer über unsere Stadt wissen wollten und nie zu fragen wagten. Er ist gerade in die Cafeteria des Centro Cultural Tijuana gekommen.«
»Ich habe schon von ihm gehört. Aidé sagte mir, der Schriftsteller Federico Campbell und dieser Professor könnten mir die komplette Geschichte von Baja California, von der Entstehung des Universums bis heute, erzählen.«
»Das und mehr. Er kann ununterbrochen reden. Als junger Mann war er Führer der PRI. Ein geborener Redner.« Leobardo machte den Computer aus und gab Ava einen Kuss. »Wappnen Sie sich mit Geduld!«, warnte er Morgado, während sie im Aufzug herunterfuhren. »Sie werden sie brauchen.«
»Ich werde es mir merken«, lautete die vorsichtige Antwort.
Sie gingen beide in das nächtliche Tijuana hinaus, mit eisigem Wind und bedrohlichen Wolken.
9
»Was für eine Freude, dich zu sehen, Leobardo! Was hast du getrieben? Wo hast du gesteckt? Hast du die Ausstellung der Maler von der Grenze gesehen? Sie ist toll. Diese Jungs sind verrückt, verrückt, sage ich dir. Teufelskerle im Fieberwahn der Fantasie. Der reinste Wirbelwind von Bildern! Du musst unbedingt hingehen, dir ihre Bilder und die komischen Multimedia-Sachen ansehen, Installationen und so. Und was sie da präsentieren! Ohne Schamgefühl. Ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen. Sie sind …«
»Maestro, ich wollte Ihnen …«, versuchte Leobardo ihn zu unterbrechen.
»Propheten in der Wüste. Wie ich sie beneide, Leobardo. Sie sind, wie soll ich es sagen, der lebendige Beweis dafür, lebendiger geht es kaum, dass José Vasconcelos sich geirrt hat. Der Norden ist nicht so, wie er behauptet. Wir sind nicht im Geringsten die Kultur der Grillsteaks und der Tortillas. Wir sind sensibel, wir denken. Wir sind ein neues Mexiko, die Zukunft der mexikanischen Nation, der modernisierende Spiegel des Vaterlandes. Tijuana ist das vortrefflichste Symbol für das Mexiko des kommenden Jahrhunderts. Die anderen Mexikaner müssen nur ihre Vorurteilsbrillen absetzen und uns sehen, wie wir wirklich sind: ein Schmelztiegel von Rassen und Völkern, eine Metropole, die mit riesigen Schritten auf eine reine, diamantene Zukunft zuschreitet, wie der große Seher Ramón López Velarde sagte, den …«
»Maestro Vizcaíno!«, unterbrach ihn Leobardo laut und schüttelte ihn dabei an der Schulter, um den Redefluss zu stoppen. »Ich möchte Ihnen Rechtsanwalt Miguel Ángel Morgado vorstellen. Er kommt aus Mexico City, um das Tijuana der Fünfzigerjahre zu erforschen.«
Professor Vizcaíno drückte daraufhin seinen Besuchern fest die Hand und lud sie ein, an seinem Tisch Platz zu nehmen. »Entschuldigen Sie. Manchmal geht der Gaul mit mir durch. Was möchten Sie wissen, Señor Morgado? Ich bin in den Fünfzigerjahren nach Baja California gekommen. Erst war ich in Mexicali, und dann hatte ich genügend gesunden Menschenverstand, nach Tijuana überzusiedeln. Ich habe es nie bereut. Das versichere ich Ihnen.«
»Nun, ich komme aus Mexicali.«
Professor Vizcaíno blickte betroffen drein. »Das tut mir leid. Mein aufrichtigstes Beileid«, sagte er, betont traurig.
»Jetzt lebe ich in Mexico City«, erklärte Morgado. »Aber ich sehe nicht viele Unterschiede zwischen Mexicali und hier. Nur dass man in Tijuana das zirkulierende Geld sieht: an den Gebäuden, den touristischen Angeboten, den Dienstleistungen in den verschiedenen Gewerben.«
»Womit wir wieder beim Thema wären, der schwarzen Legende von Tijuana«, klagte Professor Vizcaíno. »Reiner Mythos. Auch wenn ich gestehen muss, dass ich zum Teil zu diesem düsteren Bild beigetragen habe. In einem Gedicht, das ich damals schrieb, sagte ich, Tijuana sei ›Beton-Kind / Kleinhandel mit Marihuana / betäubende Injektion … / Höhle der Fledermäuse … / durchgehendes Pferd / Hund, vergeblich / einen
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