Tijuana Blues
wirklich eine Kiste voller Überraschungen war.
»Und warum interessieren Sie sich so für El Tecolote?«, wollte Mister Tijuana wissen. »Da ist doch schon viel Wasser den Bach hinuntergeflossen, finden Sie nicht?«
»Und es wird noch weiteres fließen«, schloss Morgado, bevor er die Geschichte von Timothy Keller, dem flüchtigen Gringo, dem Phantomvater, erzählte.
10
Auf der Avenida Revolución herrschte reger Verkehr. Zwischen den Straßenhändlern und Kunsthandwerkverkäufern bewegten sich die amerikanischen Touristen nicht im Pulk, sondern in versprengten Grüppchen grölend und tanzend von einer Diskothek in die andere, von einer Bar in die nächste. Es hatte den Anschein, als wollten Alte wie Junge alle Hemmungen und Schüchternheiten ablegen. Sie sprangen herum wie Tänzer in einer heiligen Prozession, wie hypnotisierte Teilnehmer einer nächtlichen Zeremonie namens Vergnügen.
Leobardo verabschiedete sich vor dem Denny’s in der Avenida Revolución von Morgado. »Ich habe noch ein Arbeitsessen«, erklärte er.
Morgado sah eine ungeduldig wartende Ava im Inneren des Restaurants, also sagte er nur: »Vielen Dank für alles. Sie waren ein exzellenter Stadtführer.«
»Wenn Sie noch etwas brauchen, rufen Sie mich morgen im Büro an. Ich bin dann dort.«
Morgado ging weiter seines Weges und musste feststellen, dass Professor Vizcaíno wusste, wovon er sprach. An der genannten Ecke saß ein Mann in einem Rollstuhl und spielte Mundharmonika.
»Mein Name ist Ángel Morgado«, stellte er sich ihm vor.
»Und meiner give me the money. «
Morgado blieb nichts anderes übrig, als einen Zwanzig-Dollar-Schein aus der Tasche zu ziehen und in das Kistchen zu werfen, das ihm der Musiker hinhielt. »Ich will mit dir sprechen.«
Der Musiker begutachtete den Schein von allen Seiten. »Bist du Polizist?«
»Nein. Ich komme von Professor Rubén Vizcaíno Valencia.«
»Dieser Mistkerl! Was willst du? Ich habe nichts für dich. Ich bin ein durch und durch ehrenwerter Mann. Lass mich arbeiten!«
Morgado legte seine Hand auf den Rollstuhl, um zu verhindern, dass der Musiker abhaute. »Ich will, dass du mir etwas erzählst, was vor langer Zeit geschehen ist. 1951, im Dezember 1951, im El Tecolote. Du hast dort Klavier gespielt. Du warst bei der Schießerei dabei und hast gesehen, wie sie einen Gringo getötet haben. Alan Brod war sein Name. Du …«
Der Musiker schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen an, so als wäre die Vergangenheit, seine Vergangenheit, aus einem verfallenen, verlassenen Grab gestiegen, um ihn mit alten Erinnerungen zu konfrontieren. »Ja, ja«, sagte er. »Ich war da. Und? Ich war an vielen Orten. Ich habe viele Kämpfe gesehen. Viele Waffen und viele Tote. Und?«
»Erzähl mir von dieser Schießerei. Erinnerst du dich?«
»Vielleicht«, stammelte der Musiker, Morgados Blick ausweichend.
Dieser zog einen Fünfzig-Dollar-Schein aus der Tasche. »Der gehört dir, wenn du mir eine glaubwürdige Geschichte erzählst.«
»Was hast du davon?«, fragte der Musiker.
» It’s my business, brother « , erwiderte Morgado. »Und deins ist es, fünfzig Mäuse zu verdienen, indem du den Mund aufmachst…und mir die Wahrheit sagst.«
Neben Morgado ertönte eine Stimme. »Irgendein Problem, Cesarín?« Sie gehörte einem korpulenten Jungen im gestreiften Hemd, der den Hotdog-Stand an der Ecke betrieb.
»Nein«, sagte der Musiker, »alles unter Kontrolle. Pass auf meinen Platz auf! Ich bin gleich wieder da.« Und zu Morgado sagte er laut: »Bring mich zum Parkhaus an der Cuarta, einen halben Block von hier. Dort reden wir.«
Morgado schob den Rollstuhl, auf dessen Rücken stand: Cool, Man, Cool. Das Parkhaus war geschlossen, aber über die Fußgängerrampe gelangte man in den Kassenraum.
»Hier ist es gut.«
Morgado hörte auf zu schieben.
»Rauchst du?«, fragte Cesarín kokett.
»Nein.«
»Das ist schlecht. Bei uns ist ein Musiker, der nicht raucht, alles, aber kein Musiker.«
»Kommen wir zum Punkt. Erinnerst du dich an die Sache im El Tecolote oder nicht?«
»Ich erinnere mich, amigo. Warum so eilig?«
Morgado sah sich um. Der Ort gefiel ihm nicht. »Wenn ich etwas nicht habe, dann Zeit«, erwiderte er.
»Und ich noch weniger. Ich bin fünfundsiebzig Jahre in diesem Geschäft, und schau mich an! Jetzt bin ich die Hälfte von dem, was ich war. Mit hundert werde ich nur noch ein Viertel sein.« Cesarín lachte über seinen eigenen Scherz. Morgado schaute sich erneut um. Er konnte
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