Tijuana Blues
stürzten sich zwei Polizisten auf ihn. »Wo wollen Sie hin? Was haben Sie mitgenommen?«, schrien sie ihn an.
Es kam zwangsläufig zum Handgemenge. Einer der Polizisten rammte ein Regal mit Dosen, und der andere versuchte, Morgado mit einem Gummischlagstock zu erwischen. Er zielte ein paar Zentimeter daneben, aber durch die hastige Ausweichbewegung verlor Morgado das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.
»Er ist ein Dieb!«, schrie der zweite Polizist und legte die Hand an seine Pistole.
»Ein Kind ist entführt worden, Idiot!«, schrie Morgado zurück.
Der Polizist zögerte. Ein paar Frauen rannten durch das Geschäft, am Rande des Nervenzusammenbruchs. Der erste Polizist erhob sich aus dem Chaos in der Konservenabteilung. Zwei Angestellte des Geschäftes versuchten, die Leute zu beruhigen.
»Was ist hier los?«, fragte ein junger Mann mit Anzug und Krawatte, der wie der Filialleiter aussah.
»Ein Kind ist entführt worden«, stammelte Morgado. »Sie sind auf dem Weg zum Parkplatz.«
»Das stimmt nicht!«, rief einer der Polizisten. »Dieser Mann hat geklaut und wollte abhauen.«
Der Geschäftsführer wusste nicht, was er tun sollte. Er sah, wie Morgado sich vom Boden erhob, verzweifelt. Er sah die beiden wütenden Polizisten. Und dann kam zu allem Überfluss noch die Frau in den kurzen Hosen völlig aufgelöst und gestikulierend auf ihn zu. »Meine Tochter! Meine Tochter! Andrea ist entführt worden!«
»Sehen Sie?«, rief Morgado erzürnt.
Ohne auf die Antwort zu warten, rannte er los und rieb sich das lädierte Knie. Auf dem Parkplatz war weder die Frau aus Tehuantepec noch das Mädchen zu sehen. Zwei Autos kamen angefahren: Streifenwagen der städtischen Polizei. Ein weiteres weißes Auto, auf Meilen als Bundespolizei zu erkennen, stand mitten auf dem Parkplatz. Morgado ging darauf zu und wies sich aus. »Haben Sie eine Indiofrau in einem weißen Gewand mit Blümchen gesehen?«
Die Polizisten sahen sich fragend an. »Schon möglich.«
»Wo sind sie hin?«
»Dort entlang«, sagte der Fahrer und zeigte auf einen Billigmarkt, La Baratera, wo am Eingang ein Schild hing: ›Alle Artikel fünf Pesos.‹
Morgado zögerte. »Liegt das Geschäft direkt an der Grenze?«
»Man stößt darauf.«
»Kann man von dort auf die andere Seite kommen?«
»Schon möglich«, sagte der Polizist. »Wenn man die Gebühr bezahlt.«
Und er lächelte Morgado an. Und der akzeptierte wie eine Aussage unter Eid diesen ganzen absurden Dialog. Er kam zu dem einzig möglichen Schluss. »Sie, die Frau aus Tehuantepec, hat schon bezahlt.«
»Schon möglich.«
Ohne das nächste ›schon möglich‹ abzuwarten, lief er los. La Baratera war ein riesiger schmaler Schlauch, voll mit Frauen, die Spielzeug aus Taiwan, amerikanischen Stoff, Kleider aus Hongkong und Billigkram aus Singapur kauften. Eine Welt der Markenpiraterie und der drittklassigen Waren in zweitklassiger Verpackung. Die Kunden dort waren ärmer als die im Calimax. Und es waren weit mehr. Das sind mindestens zweihundert Frauen in der Schlacht um die Schnäppchen, dachte er, während er sich durch die Gänge voller Tische mit wahllos nebeneinander liegenden Waren aller Art kämpfte. Aus den an allen vier Ecken angebrachten Lautsprechern kam ein Angebot nach dem anderen. Sie müssen hinten sein, mutmaßte Morgado, damit sie über den Zaun klettern können. Aber dann besann er sich eines Besseren. Nein, so kommt sie nicht rüber. Nicht mit dem Kind. Es sei denn, sie betäubt es. Sie konnte sie nur im Kofferraum eines Wagens rüberbringen. Als er durch einen Seitengang nach draußen kam, entdeckte er ein altes Auto hinter dem Geschäft. Auf den Sitzen war nichts Verdächtiges zu bemerken. Morgado öffnete den Kofferraum mit seinem Dietrich und fand einen mit Decken ausgelegten Hohlraum, der dafür präpariert zu sein schien, einen Menschen, vielleicht ein Mädchen, unterzubringen.
Als er den Kofferraum wieder schloss, überlegte er: Wo konnte sie das Mädchen betäuben? In der Damentoilette? Nein. Da sind immer Leute. Da ist man nie ungestört. Wo? Wo? Klar! In einer Umkleidekabine! Was bist du für ein Idiot! Deshalb hat es auch nur fürs Jurastudium gereicht.
Als er wieder ins La Baratera ging, sah er sie. Die Indiofrau zeigte dem Mädchen ein blaues Kleid. Aber das Kind wirkte wie weggetreten. Das konnte jedermann bemerken. Die Indiofrau benutzte das Kleid, um den Zustand des Kindes vor den Umstehenden zu verbergen. Morgado ging zu einer jungen Frau, die über
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