Tijuana Blues
California verhaftet wurden und die spurlos verschwunden sind.«
Der Anwalt blätterte die Akten nacheinander durch. Bärte. Lange Mähnen. Herausfordernde Blicke. Der Glanz der historischen Wahrheit im Gesicht der Jünglinge aus der Provinz, aus dem Norden, die glaubten, die Rettung der Menschheit liege in revolutionärer Gerechtigkeit und dem kleinen roten Buch Mao Tse-tungs.
»Was, denkst du, ist mit ihnen passiert?«
Jimmy nahm einen Stuhl und setzte sich neben Morgado. »Sie haben sie hier abgeholt. Es gibt Zeugen. Mal waren es die federales, mal Soldaten. In allen Fällen, zumindest bei diesen fünf, glauben wir, dass sie ins Landesinnere verschleppt wurden, in das Militärlager Nummer eins oder einen ähnlichen Ort. Ich bezweifle, dass sie sie in der Laguna Salada beerdigt haben.«
»Unser Skelett ist älter. Zwanzig Jahre«, sagte Morgado.
»Ja. Aus den Fünfzigerjahren, wie es aussieht. Mitten im zwanzigsten Jahrhundert. Was sagt dir das, Anwalt für die gerechte Sache?«
Morgado schlug die letzte Akte zu. »Dass wir uns mitten in der Amtszeit Maldonados befinden?«
»Also die chemitas « , sagte der Anführer der Cuervos. Sie schwiegen beide.
10
Das Café Sanborn’s platzte aus allen Nähten.
»Hast du was übrig für exquisites Essen?«, fragte Morgado.
Jimmy ging grinsend die Stufen zum Eingang hinauf und betrat frisch und fröhlich das Restaurant. Wegen seiner Hells-Angels-Aufmachung starrten ihn die Gäste des Sanborn’s entsetzt an, aber niemand traute sich, sich ihm in den Weg zu stellen oder etwas zu sagen.
»Das Ambiente gefällt mir, nur feine Leute mit guten Manieren. So wie ich«, erwiderte der Biker.
»Wen suchen wir hier?«
Jimmy zeigte auf einen Tisch im hinteren Teil. »Gleich mehrere.«
Morgado sah eine Gruppe alter Männer, die schallend lachten und sich freundschaftlich auf den Rücken schlugen. »Werden wir auch mal so enden?«, fragte er.
»Wie alle«, antwortete Jimmy philosophisch. »Es sei denn, dich holt vorher der Tod.«
Sechs alte Männer saßen um einen langen Tisch voller Zeitungen und Tassen dampfenden Kaffees. »Jaimito, was verschafft uns die Ehre?«
Jimmy stellte Morgado vor. »Das ist Licenciado Miguel Ángel Morgado.«
»Rechtsanwalt?«, fragte der Älteste der Runde.
Noch bevor Morgado etwas sagen konnte, erwiderte Jimmy, während er sich mitten in die Gruppe setzte: »Nein, Don Andrés. Unser Freund Miguel Ángel ist Historiker. Er schreibt an einem Buch über die Zeit von Maldonado, dem ersten Gouverneur.«
»Ich habe für ihn gearbeitet«, rief ein anderer aus und machte eine Verbeugung.
»Bestimmt als Lakai. Das sieht man dir von weitem an«, sagte Jimmy. Alle lachten.
»Du bist ein unverbesserlicher Anarchist«, sagte Don Andrés. Dann wandte er sich an Morgado. »Sie sind einer von uns, nicht wahr?«
»Ich komme ursprünglich aus Mexicali, aber ich bin schon in jungen Jahren weggegangen.«
Don Andrés nickte. »Was wollen Sie aus der damaligen Zeit wissen? Wir alle, die wir hier am Tisch sitzen, waren damals jung. Nun, die einen mehr, die anderen weniger. Ich war schon in der offiziellen Partei. Don Eugenio war auf der anderen Seite, in der PAN. Salvador arbeitete beim Telegrafenamt. Fernando rechts neben ihm war einer unserer verdienstvollsten Journalisten. Ein echter Spürhund. Claudio war und ist immer noch Bauer. Und Rubén ist unser bester Maler. Er malte damals Porträts von den Reichen und genießt internationalen Ruf als Landschaftsmaler. Kennen Sie seine Bilder?«
»Nein, bedaure.«
»Dann sehen Sie sich die hinter Ihnen mal an. Die Landschaften sind von ihm.«
Morgado tat wie ihm geheißen. Einen Moment lang dachte er, es erwarteten ihn die typischen Aquarellbilder von Coyoacán oder Cuernavaca, aber die Bilder von Don Rubén wiesen unterschiedliche Perspektiven auf. Sie zeigten die Ebene von Mexicali, als würde sie aus Escher-Quadraten bestehen, aber der Effekt entstand nicht durch geometrische Spielerei, sondern durch das allgegenwärtige strahlende Licht.
»Donnerwetter!«, rief er beeindruckt aus.
»Gefallen Sie Ihnen?«, fragte der Maler.
»Es ist, als würde man in der prallen Sonne durch die Salada laufen: Alles strahlt, und die Horizonte verlieren sich in der Ferne. Es ist beängstigend. Schön, aber beängstigend.«
Der Maler winkte ab und ergriff sofort das Wort. »Ich male nicht für Touristen. Ich betreibe kein Kunsthandwerk, und es geht mir nicht darum, die Natur abzubilden. Ich verändere durch meine
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