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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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ist jetzt nicht so wichtig«, und Willy hob mit letzter Anstrengung den Kopf und sagte: »Doch. Ist es wohl -«, und dann, von einem Moment zum anderen, war er tot.
    Die diensthabende Schwester Margaret trat ans Bett und suchte nach dem Puls. Als sie keinen finden konnte, zog sie einen kleinen Spiegel aus der Tasche und hielt ihn Willy vor den Mund. Einen Augenblick später drehte sie den Spiegel um, sah hinein, erblickte darin aber nur sich selbst. Daraufhin steckte sie ihn wieder ein, streckte die rechte Hand aus und schloß Willy die Augen.
    »Ein sehr schöner Tod«, sagte sie.
    Zur Antwort schlug Mrs. Swanson nur die Hände vors Gesicht und weinte.
    Mr. Bones sah durch die Fliegenaugen zu ihr hinab, hörte, wie ihr kummervolles Schluchzen die Krankenstation erfüllte, und fragte sich, ob es schon jemals einen merkwürdigeren, verwirrenderen Traum gegeben hatte. Dann blinzelte er einmal und befand sich nicht mehr im Krankenhaus, sondern stand, wieder ganz Hund, auf der North Amity Street und sah den Krankenwagen in die entgegengesetzte Richtung davonfahren. Der Traum war vorbei, aber er träumte weiter, was bedeutete, daß er einen Traum im Traum gehabt haben mußte, eine eingeschobene Vision von Fliegen und Krankenhäusern und von Mrs. Swanson, und nun, da sein Herrchen tot war, befand er sich wieder im ersten Traum. Jedenfalls dachte er das, doch kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, als er schon ein zweites Mal blinzelte und aufwachte, und da war er wieder in Polen, zusammen mit dem schlafenden Willy, der auch gerade aufwachte, und einen Augenblick lang verwirrte ihn das so, daß er sich nicht sicher sein konnte, ob er nun wieder in der Wirklichkeit oder nur in einem weiteren Traum aufgewacht war.
    Aber das war noch nicht alles. Selbst nachdem er Witterung aufgenommen, die Nase an Willys Bein gerieben und festgestellt hatte, daß dies in der Tat das wirkliche Leben war, hatte er mit weiteren verwirrenden Ungereimtheiten zu kämpfen. Willy räusperte sich, und während Mr. Bones auf den unausweichlichen Hustenanfall wartete, fiel ihm ein, daß Willy im Traum nicht gehustet hatte, daß seinem Freund diese Agonie ausnahmsweise erspart geblieben war. Und genau das geschah jetzt erneut. Sein Herrchen räusperte sich und fing sogleich wieder an zu reden. Zuerst hielt Mr. Bones das nur für einen glücklichen Zufall, doch während Willy weitersprach und impulsiv von einer Ecke seines Hirns in die andere sprang, fiel dem Hund die Ähnlichkeit zwischen den Worten auf, die er jetzt hörte, und denen, die er im Traum gehört hatte. Sie waren nicht völlig identisch - wenigstens glaubte er das nicht -, aber sie ähnelten einander, und zwar sehr. Nach und nach kam Willy genau auf all die Themen zu sprechen, die er auch im Traum abgehandelt hatte, und als Mr. Bones klar wurde, daß sich alles in derselben Reihenfolge abspielte wie zuvor, spürte er, wie ihm ein kalter Schauer den Rücken hinablief. Erst Momsan und die ruinierten Witze. Dann der Katalog seiner sexuellen Abenteuer. Schließlich die Tirade und die Entschuldigungen, das Gedicht, die literarischen Kämpfe - die ganze Leier. Als Willy zu der Geschichte von seinem Zimmergenossen und dem Hund kam, der Maschine schreiben konnte, fragte sich Mr. Bones, ob er im Begriff war, den Verstand zu verlieren. War er wieder in den Traum eingetaucht, oder stellte der Traum nur eine frühere Version dessen dar, was nun geschah? Er blinzelte und hoffte aufzuwachen. Er blinzelte erneut, und wieder geschah nichts. Er konnte nicht aufwachen, weil er schon wach war. Dies war das wirkliche Leben, und da man dieses Leben nur einmal leben konnte, wußte er, daß sie diesmal tatsächlich am Ende angelangt waren. Er wußte, daß die Worte, die aus dem Munde seines Herrchens sprudelten, die letzten waren, die er je von Willy hören würde.
    »Ich war zwar nicht selbst dabei«, sagte der Barde gerade, "aber ich glaube meinem Gewährsmann. In all den Jahren unserer Freundschaft hat er meines Wissens nie irgendwelche Geschichten erfunden. Vielleicht ist das ja eins seiner Probleme - als Schriftsteller, meine ich: nicht genug Phantasie; aber als Freund, da kam bei ihm stets alles aus des Pferdes Munde. Hübsche Formulierung, aber ich will verdammt sein, wenn ich weiß, was sie bedeuten soll. Das einzige sprechende Pferd, das ich je gesehen hab, war im Film. Donald O’Connor in der Armee, drei, vier idiotische Streifen, die ich mal als Kind gesehen hab. Aber wenn ich so drüber nachdenke, kann

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