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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
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erkennen, schwer zu sehen, ob sein Herrchen noch lebte oder nicht. Mr. Bones wollte schon zurücklaufen und ein letztes Mal schauen, doch dann zögerte er, ein solches Risiko einzugehen, und als er sich endlich dazu entschlossen hatte, hatten die Sanitäter Willy schon in den Rettungswagen geschoben und knallten die Türen zu.
    Bis dahin hatte sich der Traum in nichts von der Wirklichkeit unterschieden. Jedes Wort, jede Geste, jedes Ereignis hatte ganz genau so stattgefunden, wie sie sich auf der Welt nun mal ereignen. Doch als der Rettungswagen davonfuhr und die Leute langsam in ihre Häuser zurückkehrten, spürte Mr. Bones, wie er sich zweiteilte. Eine Hälfte von ihm blieb an der Straßenecke zurück, ein Hund, der über seine düstere und Ungewisse Zukunft nachdachte. Die andere verwandelte sich in eine Fliege. In Anbetracht der Natur von Träumen war daran wohl nichts Ungewöhnliches. Wir alle verwandeln uns im Traum, und Mr. Bones machte da keine Ausnahme. Er hatte schon mal in der Haut eines Pferdes, einer Kuh und eines Schweins gesteckt, von allen möglichen Hunden ganz zu schweigen, doch bis zu diesem Traum war er noch nie zwei Wesen zugleich gewesen.
    Es gab wichtige Dinge zu erledigen, die nur der Teil von ihm übernehmen konnte, der sich in eine Fliege verwandelt hatte. Während also der Hund an der Straßenecke wartete, erhob sich die Fliege in die Luft, summte den Block entlang und verfolgte den Rettungswagen, so schnell ihre Flügel sie tragen konnten. Weil dies ein Traum war und weil diese Fliege schneller fliegen konnte als eine echte, lebendige Fliege, brauchte sie dazu nicht lang. Als der Rettungswagen die nächste Straßenecke erreicht hatte, klammerte Mr. Bones sich bereits an den Griff der Hecktür, und so, alle sechs Gliedmaßen in die angerostete Oberfläche der windabgewandten Seite des Griffs gekrallt und betend, daß der Wind ihn nicht mit sich reißen würde, fuhr er mit Willy ins Krankenhaus. Es wurde eine wilde Fahrt, bei all den Schlaglöchern und Schlenkern, plötzlichen Bremsmanövern, ruckartigen Anfahrten und dem Luftstrom, der von allen Seiten an ihm zerrte, aber er schaffte es, sich festzuhalten, und als der Rettungswagen acht oder neun Minuten später vor der Notaufnahme der Klinik hielt, hatte er noch alle Sinne beisammen. Just als einer der Sanitäter nach der Klinke greifen wollte, ließ er los, und als die Türen geöffnet wurden und man Willy hinausschob, schwebte er vielleicht einen Meter über der Szene, ein unauffälliger Punkt, der auf das Gesicht seines Herrchens herabsah. Im ersten Augenblick konnte er nicht erkennen, ob Willy noch lebte oder nicht, doch als die Trage ganz herausgezogen worden war und das Rollgestell den Boden berührte, schlug Mrs. Gurevitchs Sohn die Augen auf. Nicht weit, nur einen winzigen Spalt, um ein wenig Licht hereinfallen zu lassen und zu sehen, was los war, aber selbst dieser kleine Blinzler genügte, daß das Herz der Fliege einen Sprung machte. »Bea Swanson«, murmelte Willy. »Drei eins sechs Calvert. Anrufen. Pronto. Muß ihr den Schlüssel geben. Beas Schlüssel. Geht um Leben und Tod.«
    »Keine Sorge«, sagte einer der Sanitäter. »Wir kümmern uns drum. Aber sprechen Sie jetzt nicht. Sie müssen sich schonen, Willy.«
    Willy. Das hieß, er hatte ihnen genug erzählt, daß sie seinen Namen kannten, und wenn er im Rettungswagen gesprochen hatte, bedeutete das vielleicht, daß es ihm doch nicht so schlecht ging, wie es schien, was wiederum bedeutete, daß er es mit der richtigen Arznei und guter Pflege vielleicht doch noch schaffen würde. Das jedenfalls dachte die Fliege in Mr. Bones’ Traum, die ja eigentlich Mr. Bones selbst war, und weil er keineswegs als Unbeteiligter gelten konnte, sollten wir ihm diesen Trost der letzten Hoffnung ruhig gönnen, selbst wenn jede Hoffnung längst vergeblich war. Denn was wissen Fliegen schon? Und was Hunde? Und was weiß, wenn wir schon einmal dabei sind, der Mensch? Alles lag in Gottes Hand, und die Wahrheit war, es gab kein Zurück.
    Trotzdem geschahen in den siebzehn Stunden, die Willy noch blieben, eine Reihe von außergewöhnlichen Dingen. Die Fliege, die von der Zimmerdecke über Bett 34 in der Armenabteilung des Krankenhauses Unserer lieben Frau voller Gnaden herabsah, bekam sie alle mit, und wenn Mr. Bones an jenem Augusttag des Jahres 1993 nicht selbst dabeigewesen wäre und sie mit eigenen Augen gesehen hätte, hätte er sie nicht für möglich gehalten. Zum ersten fand man Mrs.
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