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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Swanson. Keine drei Stunden nach Willys Einlieferung eilte seine alte Lehrerin den Stationsflur entlang, bekam von Maria Theresa, der Oberschwester der Abendschicht von 16 Uhr bis Mitternacht, einen Stuhl gebracht und wich von da an bis zu dem Augenblick, als Willy diese Welt verließ, nicht mehr von der Seite ihres Schülers. Zum zweiten schien Willys Kopf nach stundenlanger intravenöser Nahrungszufuhr und unaufhörlichen Megadosen von Antibiotika und Adrenalin ein wenig klarer zu werden, und er verbrachte den letzten Morgen seines Lebens so wach und gelassen, wie Mr. Bones ihn noch selten erlebt hatte. Zum dritten starb er ohne Schmerzen. Keine Anfälle, kein Erbrechen, keine kataklysmischen Feuer in seiner Brust. Er glitt langsam hinüber, entzog sich der Welt in kleinen, kaum wahrnehmbaren Schritten, und am Ende schien er zu schrumpfen und zu schrumpfen wie ein Wassertropfen, der an der Sonne verdunstet, bis er einfach nicht mehr da war.
    Die Fliege bemerkte nicht, ob der Schlüssel tatsächlich den Besitzer wechselte. Vielleicht tat er es, als Mr. Bones gerade ein wenig abgelenkt war, aber vielleicht hatte Willy auch vergessen, ihn überhaupt zu erwähnen. Unter den gegebenen Umständen schien das wirklich nicht wichtig. Nachdem Bea Swanson das Zimmer betreten hatte, gab es so viele andere Dinge, die Mr. Bones bedenken mußte, so viele Worte, auf die er achten, und Gefühle, die er verarbeiten mußte, daß er sich kaum noch an seinen eigenen Namen erinnern konnte, geschweige denn an Willys unausgegorenen Plan, sein literarisches Archiv zu retten.
    Mrs. Swansons Haar war weiß geworden, und sie hatte zwölf Kilo zugenommen, doch die Fliege wußte sogleich, wer sie war. Rein äußerlich unterschied sie sich in nichts von tausend anderen Frauen ihres Alters. In den blau-gelb karierten Madras-Shorts, der bauschigen weißen Bluse und den Ledersandalen wirkte sie, als habe sie es längst aufgegeben, über ihr Erscheinungsbild nachzudenken. Ihre molligen Arme und Beine waren im Lauf der Jahre noch runder geworden, und angesichts der Grübchen in ihren Knien, der Krampfadern auf ihren Waden und der fleischigen Hautlappen an ihren Oberarmen hätte man sie leicht mit einer betuchten Rentnerin verwechseln können, die nichts Besseres zu tun hatte, als am neunten Grün im Golfwagen herumzukutschieren und sich Sorgen darüber zu machen, ob sie ihre Runde bis zum Frühaufsteher-Spezialangebot im Clubhaus schaffte. Allerdings war ihre Haut blaß, nicht braungebrannt, und statt einer Sonnenbrille trug sie nur eine mit einem schmucklosen Drahtgestell. Sah man jedoch durch die Gläser dieser Supermarktbrille, entdeckte man dahinter Augen von bemerkenswertem Blau. Ein Blick, und man war verloren. Sie hielten einen gefangen mit ihrer Wärme und Wachheit, ihrer Intelligenz und Aufmerksamkeit, der Tiefe ihrer skandinavischen Stille. Dies waren die Augen, in die Willy sich als Knabe verliebt hatte, und nun verstand die Fliege die ganze Aufregung. Vergessen wir die kurzgeschorenen Haare, die dicken Beine und die langweilige Kleidung. Mrs. Swanson war keine Schulmeisterin im Ruhestand. Sie war die Göttin der Weisheit, und wenn man sich erst mal in sie verliebte, verfiel man ihr bis zum letzten Tag.
    Mrs. Swanson war auch keineswegs die Närrin, für die Mr. Bones sie gehalten hatte. Nachdem er sich auf dem ganzen Weg nach Baltimore Willys Schwärmereien von ihrer Güte und Großherzigkeit hatte anhören müssen, hatte er mit einer weichherzigen Rührmamsell gerechnet, einer dieser flatterhaften Personen, die zu plötzlichen Begeisterungsausbrüchen neigten, beim kleinsten Anlaß zusammenklappten und in Tränen ausbrachen und hinter einem herräumten, sobald man sich von seinem Platz erhoben hatte. Die echte Mrs. Swanson war das genaue Gegenteil davon. Das heißt, die Mrs. Swanson in Mr. Bones’ Traum. Als sie an Willys Bett trat und ihrem einstigen Schüler zum erstenmal nach fast dreißig Jahren wieder ins Gesicht sah, war die Fliege überrascht über die Strenge und Deutlichkeit ihrer Reaktion. »Herrje, William«, sagte sie. »Du hast dich ja schön in die Patsche geritten.«
    »Ich fürchte auch«, entgegnete Willy. »Ich bin eben ein erstklassiger Versager, der König der Nichtsnutze.«
    »Na, zumindest hattest du deinen Grips noch so weit beisammen, daß du dich mit mir in Verbindung gesetzt hast«, sagte Mrs. Swanson, setzte sich auf den Stuhl, den ihr Schwester Maria Theresa hingestellt hatte, und nahm Willys Hand. »Das

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