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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
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Timing ist vielleicht nicht so toll, aber besser spät als nie, hm?« Willy schossen die Tränen in die Augen, und ausnahmsweise versagte ihm die Stimme.
    »Na, bei dir hing ja immer alles am seidenen Faden, William«, fuhr Mrs. Swanson fort, »also kann ich nicht gerade behaupten, daß ich überrascht wäre. Ich bin sicher, du hast dein Bestes gegeben. Aber wir reden hier von hochexplosivem Sprengstoff, nicht wahr? Du spazierst mit einem Haufen Nitroglyzerin im Kopf rum, und früher oder später mußtest du ja mal gegen die Wand laufen. Wenn man es sich recht überlegt, ist es ein Wunder, daß du dich nicht schon längst in die Luft gejagt hast.«
    »Ich bin den ganzen Weg von New York hierhergelaufen«, entgegnete Willy unvermittelt. »Zu viele Meilen mit zuwenig Sprit im Tank. Hätte mich fast umgebracht. Aber jetzt bin ich froh, daß ich hier bin.«
    »Du mußt müde sein.«
    »Ich fühl mich wie eine alte Socke. Aber wenigstens kann ich jetzt friedlich sterben.«
    »Sprich nicht so. Wir kriegen dich schon wieder auf den Damm. Du wirst sehen, Willy. In ein paar Wochen bist du wieder so gut wie neu.«
    »Aber klar. Und nächstes Jahr werd ich Präsidentschaftskandidat.«
    »Das geht leider nicht. Du hast schon einen Job.«
    »Na ja, eigentlich nicht. Ich bin arbeitslos. Nicht vermittelbar.«
    »Und was ist mit dieser Weihnachtsmanngeschichte? «
    »Ach so, die.«
    »Das hast du doch nicht aufgegeben, oder? Als du mir davon geschrieben hast, hörte sich das eher nach einer Lebensaufgabe an.«
    »Ich steh immer noch auf der Lohnliste. Seit zwanzig Jahren schon.«
    »Das muß ein ziemlich harter Job sein.«
    »Ja, ist es auch. Aber ich will nicht klagen. Hat mich ja keiner dazu gezwungen. Ich hab mich selber dienstverpflichtet, und ich hab’s nie bereut. Lange Arbeitszeiten, und ich hatte die ganze Zeit nicht einen einzigen Tag frei, aber was will man erwarten? Es ist nicht leicht, Gutes zu tun. Da bleibt nichts hängen. Und Sachen, mit denen man kein Geld verdienen kann, verwirren die Leute. Die denken dann, man führt was im Schilde, auch wenn es gar nicht stimmt.«
    »Hast du denn noch die Tätowierung? Du hast sie mal in einem Brief erwähnt, aber ich habe sie noch nie gesehen.«
    »Klar, sie ist immer noch da. Sie dürfen ruhig schauen, wenn Sie wollen.«
    Mrs. Swanson rutschte auf ihrem Stuhl vor, schob den rechten Ärmel von Willys Krankenhausnachthemd hoch, und da war sie. »Sehr hübsch«, sagte sie. »So was nenne ich einen richtigen Weihnachtsmann.«
    »Fünfzig Piepen«, sagte Willy. »Aber jeden Cent davon wert.«
    So begann ihr Gespräch. Es zog sich die ganze Nacht bis zum nächsten Morgen hin, nur unterbrochen durch gelegentliche Visiten der Schwestern, die vorbeikamen, um Willys Tropf zu wechseln, seine Temperatur zu messen und die Bettpfanne zu leeren. Manchmal ließen Willys Kräfte nach, dann döste er mitten im Satz ein und schlief zehn, zwanzig Minuten, doch nach einer Weile wurde er stets wieder munter, tauchte aus den Tiefen des Unbewußten auf und unterhielt sich weiter mit Mrs. Swanson. Wenn sie nicht dagewesen wäre, ging der Fliege auf, hätte er wohl kaum so lange durchgehalten, aber seine Freude darüber, wieder mit ihr zusammenzusein, war so groß, daß er sich alle Mühe gab - solange er sich noch Mühe geben konnte. Aber er wehrte sich nicht gegen das Unausweichliche, und selbst als er die Dinge auflistete, die er in seinem Leben zu tun versäumt hatte - nie Autofahren gelernt, nie in einem Flugzeug geflogen, nie ein fremdes Land besucht, nie Pfeifen gelernt-, tat er das nicht mit Bedauern, sondern eher gleichgültig, um ihr zu beweisen, daß all das nicht mehr zählte. »Sterben ist nichts Besonderes«, sagte er und meinte damit, daß er bereit war zu sterben und ihr dankbar war, dafür gesorgt zu haben, daß er seine letzten Stunden nicht unter Fremden zu verbringen brauchte.
    Wie nicht anders zu erwarten, galten seine letzten Worte Mr. Bones. Er kam wieder auf das Thema zurück, was denn aus seinem Hund werden sollte, den er schon mehrmals erwähnt hatte, und machte Mrs. Swanson noch einmal deutlich, wie wichtig es sei, daß sie die Stadt durchkämmte und ihn fand und alles tat, um ihm ein neues Heim zu besorgen. »Ich hab’s versaut«, sagte er. »Ich hab meinen Hund im Stich gelassen.« Mrs. Swanson, ganz erschrocken darüber, wie schwach Willy plötzlich geworden war, versuchte ihn mit ein paar bedeutungslosen Worten zu trösten: »Keine Sorge, William, schon in Ordnung, das
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