Timbuktu
dir Beine!«), sah Willy ihm in die Augen und sagte: »Hau ab, Bonesy. Laß dich bloß nicht schnappen.« Also leckte der Hund seinem Herrchen übers Gesicht, blieb einen Augenblick stocksteif stehen, als Willy ihm den Kopf tätschelte, und dann rannte er los und raste die Straße hinunter, als gäbe es kein Morgen.
3
Diesmal blieb Mr. Bones nicht an der Straßenecke stehen, und er lungerte auch nicht herum, um auf den Rettungswagen zu warten. Wozu auch? Er wußte, daß der Wagen kommen würde, und wenn er erst mal da war, wußte er, wohin er sein Herrchen bringen würde. Die Nonnen und Ärzte würden ihr Bestes geben, Mrs. Swanson würde seine Hand halten und die Nacht mit ihm verplaudern, und kurz nach Sonnenaufgang würde Willy auf dem Weg nach Timbuktu sein.
Also rannte Mr. Bones weiter, ohne je daran zu zweifeln, daß die Wirklichkeit halten würde, was der Traum versprochen hatte, und kaum war er um die Ecke und lief am nächsten Häuserblock entlang, da dämmerte ihm, daß die Welt deshalb nicht untergehen würde. Fast bedauerte er das. Er hatte sein Herrchen verlassen, und trotzdem hatte sich die Erde nicht aufgetan und ihn verschluckt. Die Stadt war nicht verschwunden, der Himmel nicht in Flammen aufgegangen. Alles war wie immer, und so würde es auch bleiben, und geschehen war geschehen. Die Häuser standen noch, der Wind wehte weiter, und sein Herrchen würde sterben. Das hatte ihm der Traum verheißen, und weil der Traum eben kein Traum, sondern eine Vision gewesen war, gab es an alldem keinen Zweifel. Willys Schicksal war besiegelt. Während Mr. Bones den Bürgersteig entlangtrottete und dort, von wo er sich gerade entfernte, eine Sirene nahen hörte, begriff er, daß jetzt der letzte Teil der Geschichte begann. Aber es war nicht mehr seine Geschichte, und damit, was von nun an mit Willy geschehen mochte, hatte er nichts mehr zu tun. Er war auf sich gestellt, und ob es ihm paßte oder nicht, es würde weitergehen, auch wenn er nicht wußte, wohin.
Wie chaotisch die letzten Stunden gewesen waren, dachte er bei sich, was für ein Durcheinander von Erinnerungen und verworrenen Gedanken - aber in einem Punkt hatte Willy den Nagel auf den Kopf getroffen, und obwohl er am Ende ein wenig übers Ziel hinausgeschossen war, gab es an der eigentlichen Idee nichts zu deuteln: Wenn Mr. Bones hätte lesen können, hätte er jetzt nicht in diesem Schlamassel gesteckt. Selbst mit den oberflächlichsten, kümmerlichsten Kenntnissen des Alphabets wäre er in der Lage gewesen, die 316 Calvert Street zu finden, und erst mal dort angekommen, hätte er vor der Tür gewartet, bis Mrs. Swanson aufgetaucht wäre. Sie war der einzige Mensch, den er in Baltimore kannte, und nachdem er all die Stunden mit ihr im Traum verbracht hatte, war er davon überzeugt, daß sie ihn gern aufgenommen und sich vor allem prima um ihn gekümmert hätte. Das wußte man doch schon, wenn man sie nur ansah oder reden hörte. Aber wie eine Adresse finden, wenn man die Straßenschilder nicht lesen konnte? Wenn Willy meinte, daß Lesen so wichtig sei, warum hatte er dann nichts unternommen? Statt über seine Niederlagen und Dummheiten zu jammern und zu stöhnen, hätte er sich lieber die Tränen sparen und ihm ein paar Schnellkurse geben sollen. Mr. Bones wäre mehr als gewillt gewesen, es wenigstens zu versuchen. Was nicht heißen soll, daß er wirklich lesen gelernt hätte, aber woher konnte man das wissen, wenn man es nicht versuchte?
Er bog um eine weitere Ecke und blieb stehen, um aus einer Pfütze zu trinken, die noch vom Regen übriggeblieben war. Während er mit der Zunge das warme, trübe Wasser aufschlappte, durchfuhr ihn plötzlich ein Gedanke. Und nachdem er ihn eine Weile hin und her bedacht hatte, wurde ihm fast schlecht vor Bedauern. Vergiß das mit dem Lesen, sagte er sich. Vergiß die Frage, wie intelligent Hunde eigentlich sind. Das ganze Problem hätte einfach und elegant gelöst werden können: nämlich mit einem Schild um den Hals. Ich heiße Mr. Bones. Bitte bringen Sie mich zu Bea Swansons Haus, 316 Calvert Street. Auf die Rückseite hätte Willy eine kurze Notiz an Mrs. Swanson schreiben und ihr erklären können, was mit ihm passiert war und warum sie seinem Hund ein Heim geben sollte. Sobald Mr. Bones unterwegs gewesen wäre, hätten die Chancen ziemlich gut gestanden, daß ein wohlmeinender Fremder das Schild gelesen und der Bitte Folge geleistet hätte, und binnen Stunden hätte sich Mr. Bones friedlich auf dem
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