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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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klappen. Eine andere Möglichkeit war der Hinterhof des chinesischen Restaurants. Er war nicht sehr groß - eigentlich nur ein unkrautüberwucherter Winkel - , und am Zaun standen ein paar verrostete Kühlschränke und verrostete Blechplatten, aber manchmal gingen die Kellner hinaus, um zu rauchen, und fast jeden Abend, vor allem, wenn es warm war, trat der Vater noch ganz gern ein paar Minuten nach draußen und spazierte umher, nachdem er das Restaurant aufgeräumt und abgeschlossen hatte. »Sterne trinken« nannte er das, und Henry zufolge schlief er besser, wenn er seine kleine Dosis Himmel gehabt hatte, bevor er hinaufging und sich schlafen legte.
    Henry redete noch eine Weile über die Schlafgewohnheiten seines Vaters, aber Mr. Bones hörte schon nicht mehr zu. Dem Jungen war das fatale Wort über die Lippen gekommen, und nachdem Mr. Bones kapiert hatte, daß das fragliche Restaurant keineswegs irgendein gewöhnlicher Hot-Dog-Schuppen war, sondern ein chinesisches Restaurant, war er kurz davor, kehrtzumachen und Fersengeld zu geben. Wie oft hatte Willy ihn vor solchen Orten gewarnt? Erst gestern morgen hatte er ihn noch eine Viertelstunde lang darüber belehrt, und sollte Mr. Bones jetzt vielleicht diesen Rat in den Wind schlagen und das Andenken seines geliebten Herrchens besudeln? Dieser Henry war ja ein netter Kerl, aber wenn Willys Worte auch nur das kleinste Körnchen Wahrheit enthielten, unterschrieb Mr. Bones sein eigenes Todesurteil, wenn er bei dem Jungen blieb.
    Doch er brachte es einfach nicht über sich, davonzulaufen. Er war erst eine knappe Dreiviertelstunde mit Henry zusammen, und schon war die Bindung zu fest, um grußlos das Weite zu suchen. Hin- und hergerissen zwischen Furcht und Zuneigung, entschied er sich für einen Mittelweg, den einzigen, der ihm unter den gegebenen Umständen zur Verfügung stand. Er hielt an - blieb einfach auf dem Bürgersteig stehen, drückte sich an den Boden und begann zu wimmern. Henry, der nur wenig Erfahrung mit Hunden hatte, war schleierhaft, was dieser plötzliche und unerwartete Schritt zu bedeuten hatte. Er kauerte sich neben den Hund und strich ihm über den Kopf, und dem in völliger Unentschlossenheit gefangenen Mr. Bones fiel auf, wie sanft die Berührung des Jungen war.
    »Du bist ja ganz erschossen«, sagte Henry. »Ich quatsche hier vor mich hin, und du bist völlig fertig und am Verhungern, und ich hab noch nicht mal dran gedacht, dir was zu fressen zu geben.«
    Diesen Worten folgte ein Big Mac mit einer Tüte Pommes, und nachdem Mr. Bones diese köstlichen Gaben verschlungen hatte, war sein Herz wie Wachs in der Hand des Jungen. Wenn du jetzt wegläufst, sagte er sich, wirst du auf der Straße verhungern. Gehst du mit ihm nach Hause, wirst du auch sterben. Aber wenigstens bist du dann mit Henry zusammen, und wenn der Tod sowieso überall lauert, welchen Unterschied macht es dann, wohin du gehst?
    Und so schlug Mr. Bones die Lehren seines Herrchens in den Wind und endete vor den Toren der Hölle.
    Sein neues Heim war ein großer Pappkarton, in dem sich einst eine riesige Klimaanlage befunden hatte. Als Vorsichtsmaßnahme zwängte Henry den Karton zwischen den Maschendrahtzaun und einen der alten Kühlschränke in der hintersten Ecke des Hinterhofs. Dort schlief Mr. Bones des Nachts, lag zusammengerollt in seiner dunklen Klause und wartete, bis der Junge ihn am Morgen holen kam, und weil Henry ein kluges Köpfchen war und ein Loch unterm Zaun hindurch gebuddelt hatte, konnte Mr. Bones in den nächsten Hinterhof kriechen - wodurch er sowohl die Hinter- als auch die Seitentür des Restaurants mied - und sich mit seinem jungen Herrchen am anderen Ende des Blocks treffen, von wo aus sie sich auf ihre täglichen Streifzüge machten.
    Man glaube ja nicht, daß der Hund keine Angst hatte, und man glaube auch nicht, daß er sich der Gefahren, die ihn umgaben, nicht bewußt war - doch man sollte wissen, daß er seine Entscheidung, sich Henry anzuschließen, nicht ein einziges Mal bereute. Das Restaurant entpuppte sich als unerschöpfliche Quelle schmackhafter Delikatessen, und zum erstenmal seit Momsans Tod vier Jahre zuvor hatte Mr. Bones genug zu fressen. Rippchen mit Klößen, Sesamnudeln und Bratreis, Tofu in brauner Soße, geschmorte Ente und luftig-leichte Wan Tans: Die Auswahl war schier grenzenlos, und nachdem er erst mal in die Feinheiten der chinesischen Küche eingeweiht war, kriegte er sich bei dem Gedanken, was Henry ihm als nächstes bringen

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