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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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daß er nicht seinem Peiniger in die Augen sah. Es war das Gesicht eines chinesischen Jungen im Alter von vielleicht zehn oder elf Jahren, und in jenem ersten unauslöschlichen Augenblick hatte Mr. Bones das Gefühl, es handele sich um das allerschönste menschliche Antlitz, das er je gesehen hatte. Soviel zu allgemeinen Prinzipien und Verhaltensregeln. Dieses Kind stellte keine Bedrohung dar, und wenn Mr. Bones sich darin irrte, würde er seine Hundemarke abgeben und den Rest seines Lebens als Stachelschwein verbringen.
    »Ich heiße Henry«, sagte der Junge. »Henry Chow. Und wie heißt du?«
    Ha, dachte Mr. Bones. Ein kleiner Klugscheißer. Wie soll ich ihm das beantworten, bitte schön?
    Da allerdings vom Ergebnis dieser Unterhaltung eine Menge abhing, beschloß er, es wenigstens zu versuchen. Zwischen all den Zweigen und toten Blättern vergraben, hob er den Kopf und stieß drei kurze Beller aus: Wuff, wuff, wuuff. Es war ein reiner Anapäst, jede Silbe seines Namens mit der richtigen Betonung, Gewichtung und Länge. Ein paar Sekunden lang schien es, als seien die Worte »Mister Bones« auf ihre klangliche Essenz, auf die Reinheit einer musikalischen Phrase reduziert worden.
    »Braver Hund«, sagte der kleine Henry und streckte ihm zum Zeichen des Friedens die rechte Hand entgegen. »Du lernst schnell, hm?«
    Mr. Bones bellte noch einmal zur Bestätigung, und dann leckte er die vor seiner Schnauze ausgestreckte Hand. Nach und nach lockte Henry ihn aus seinem sicheren Unterschlupf hervor, und als Mr. Bones ganz herausgekrochen war, setzte sich der Junge neben ihn auf den Boden und zupfte ihm unter ausgiebigem Streicheln und Liebkosen vorsichtig die Blätter und Dornen ab, die sich in seinem Fell angesammelt hatten.
    Und so begann eine beispielhafte Freundschaft zwischen Hund und Junge. Sie waren nur dreieinhalb Jahre auseinander, aber Henry war jung und Mr. Bones alt, und dieser Unterschied bewirkte, daß jeder dem anderen etwas gab, was dieser bisher noch nicht gekannt hatte. Henry bewies Mr. Bones, daß Liebe keine quantifizierbare Substanz war. Irgendwo gab es immer noch mehr davon, und selbst wenn man eine Liebe verloren hatte, war es doch keineswegs unmöglich, eine neue zu finden. Für Henry, ein Einzelkind, dessen Eltern viel arbeiteten und sich trotzdem standhaft geweigert hatten, in ihrer Wohnung ein Haustier zu dulden, war Mr. Bones die Antwort auf all seine Gebete.
    Allerdings war die sich anbahnende Allianz nicht ganz ohne Fallstricke und Gefahren. Als Henry von seinem Vater anfing, begriff Mr. Bones schnell, daß es wohl doch nicht so hundertprozentig sicher war, sein Schicksal an diesen Jungen zu hängen, wie zunächst angenommen. Sie machten sich langsam auf den Weg zu der Straße, in der die Chows lebten, und während Henry weiter die verschiedenen Probleme erörterte, denen sie sich gegenübersahen, bemerkte Mr. Bones, wie seine Angst nach und nach Schrecken und dann blankem Entsetzen wich. Schlimm genug, daß Henrys Vater Hunde haßte und Mr. Bones das Haus nicht betreten durfte. Noch schlimmer war, daß seine Anwesenheit vor Mr. Chow geheimgehalten werden mußte, selbst wenn sie einen Unterschlupf für ihn fanden. Wenn Henrys Vater auch nur irgendwo in der Nachbarschaft einen Hund roch, würde er den Jungen so streng bestrafen, daß der sich wünschte, er wäre nie geboren worden. Angesichts dessen, daß Mr. Chow im selben Gebäude lebte und arbeitete, schien es ziemlich vermessen von ihnen zu glauben, daß sie nicht entdeckt werden würden. Die Wohnung befand sich oben im ersten Stock, das Familienunternehmen im Erdgeschoß, und Henrys Vater hielt sich immer irgendwo dort auf; entweder schlief er, oder er arbeitete vom frühen Morgen bis zum späten Abend.
    »Ich weiß, es sieht nicht gut aus«, sagte Henry. »Aber wenn du es versuchen willst, bin ich dabei.«
    Nun, zumindest hatte der Junge Mumm. Und eine freundliche Stimme hatte er auch, fand Mr. Bones, der alles tat, um die Sache positiv zu sehen und sich glücklich zu schätzen. Da ahnte er freilich nicht, daß das dicke Ende erst noch kommen sollte. Er hatte die schlimmen und die ganz schlimmen Geschichten gehört, aber erst als Henry von möglichen Verstecken anfing, begriff er das ganze Ausmaß des Horrors, auf den er sich da eingelassen hatte.
    Da sei die Gasse hinterm Haus, meinte Henry. Das sei eine Möglichkeit, und wenn Mr. Bones in einem Pappkarton schlafen wolle und verspreche, ja keinen Lärm zu machen, werde es vielleicht

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