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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Unterschlupf suchen, was Besseres als diesen verdammten Pappkarton in diesem verdammten Hinterhof, aber ich hab’s nicht getan. Ich hab’s versucht, aber es will mir keiner helfen, und jetzt ist uns die Zeit davongelaufen. Du hättest mir nicht trauen dürfen, Cal. Ich bin ein Versager. Ich bin ein blödes Stück Scheiße, und ich hab alles versaut. Das hab ich schon immer, und es wird auch immer so bleiben. Das kommt eben dabei heraus, wenn man so ein Feigling ist. Ich hab zuviel Schiß, mit meinem Vater über dich zu reden, und wenn ich hinter seinem Rücken mit Mom spreche, sagt sie es ihm sowieso, und das würde die ganze Sache nur noch schlimmer machen. Du bist der beste Freund, den ich je hatte, und ich hab dich nur enttäuscht.«
    Mr. Bones hatte nur eine ganz vage Vorstellung von dem, was Henry da sagte. Der Junge schluchzte viel zu sehr, als daß man ihn hätte verstehen können, doch während der Schwall von abgehackten Wörtern und gestotterten Sätzen weiterging, wurde immer deutlicher, daß dieser Ausbruch mehr war als nur eine vorübergehende Stimmung. Irgend etwas stimmte nicht, und obwohl Mr. Bones sich kaum vorstellen konnte, worum es dabei ging, übertrug sich Henrys Kummer auf ihn, und nach ein paar Minuten war er genauso traurig wie Henry. So ist das mit Hunden. Sie verstehen nicht immer alle Gedanken ihrer Herrchen, aber sie fühlen, was diese fühlen, und es war offenkundig, daß es dem jungen Henry Chow dreckig ging. Zehn Minuten vergingen, dann zwanzig, dann dreißig, und da hockten sie, Junge und Hund, zusammengedrängt in dem Pappkarton; der Junge hatte die Arme fest um den Hund geschlungen und heulte sich die Augen aus, und der Hund wimmerte aus Mitgefühl und hob immer wieder den Kopf, um dem Jungen die Tränen vom Gesicht zu lecken.
    Schließlich schliefen sie beide ein. Zuerst Henry, dann Mr. Bones, und trotz der traurigen Umstände, trotz der engen Verhältnisse und der knappen Luft, die einem das Atmen in dem Karton schwermachte, schöpfte Mr. Bones neuen Mut aus dem wärmenden Körper neben sich und genoß es, daß er nicht wieder allein im Dunkeln eine Nacht voller Schrecken verbringen mußte. Zum erstenmal, seit Willy von ihm gegangen war, schlief er tief und fest, unbeeindruckt von den Gefahren, die rings um ihn lauerten.
    Ein neuer Tag brach an. Rosiges Licht fiel durch einen Spalt in den Pappkarton. Mr. Bones wachte auf und wollte sich aus Henrys Armen befreien, um sich zu strecken. Es gab ein kurzes Gerangel, doch obwohl der Hund mit den Hinterläufen trat und dabei gegen die Innenwände des engen Kartons stieß, schlief der Junge weiter und bekam von dem ganzen Theater nichts mit. Erstaunlich, wie tief Kinder schlafen, dachte Mr. Bones, als es ihm schließlich gelang, seine steifen Muskeln zu strecken, aber es war noch früh - erst kurz nach sechs -, und wenn man bedachte, wie erschöpft Henry nach seinem Weinkrampf in der Nacht gewesen war, schien es schon verständlich, daß er immer noch so fest schlief. In der ersten Dämmerung besah sich der Hund das Gesicht des Jungen - so glatt und rund im Vergleich zu Willys uralter, bärtiger Visage - und beobachtete, wie ihm kleine Spucketropfen von der Zunge liefen und sich in den Winkeln seines halboffenen Mundes sammelten. Mr. Bones quoll schier das Herz über vor Zuneigung. Solange Henry bei ihm war, fand er, würde er liebend gern in diesem Pappkarton hausen.
    Zehn Sekunden später schreckte ihn ein lauter Schlag aus seinen Gedanken. Der Lärm kam wie eine Explosion über ihn, und bevor er ihn noch als Tritt gegen den Karton deuten konnte, hatte Henry die Augen aufgeschlagen und angefangen zu schreien. Dann erhob sich der ganze Karton vom Boden. Das frühe Morgenlicht überflutete Mr. Bones, und einen Augenblick lang konnte er nichts sehen. Er hörte einen Mann auf chinesisch brüllen, und im nächsten Augenblick flog der Karton durch die Luft auf Henrys Rettichbeet. Mr. Chow stand vor ihnen, bekleidet mit ärmellosem Unterhemd und blauen Shorts, und die Adern an seinem Hühnerhals traten hervor, während die Tirade aus unverständlichen Wörtern weiter auf sie herabprasselte. Er bohrte mit dem Zeigefinger in die Luft, zeigte immer wieder auf Mr. Bones, und der Hund, der von Henrys Geschrei, dem Wutausbruch des Mannes und dem plötzlichen Chaos der wilden Szene ganz verwirrt war, bellte ihn an. Der Mann holte gegen ihn aus, doch der Hund wich in sichere Entfernung zurück. Darauf ging der Mann auf den Jungen los, der schon im

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