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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Durchschnittswert erlaufener Runs war oder wie viele Nachholspiele die Orioles noch hatten? In all den Jahren, die er mit Willy verbracht hatte, hatte sich der Poet nicht ein einziges Mal über das Thema Baseball ausgelassen. Nun schien es über Nacht zu einer Frage von Leben und Tod geworden zu sein. Am Morgen, wenn Henry sich mit Mr. Bones an der Ecke traf, warf er als erstes ein paar Münzen in den Zeitungsautomaten und kaufte sich ein Exemplar der Baltimore Sun. Dann eilte er zu einer Bank auf der anderen Straßenseite, setzte sich, zog den Sportteil heraus und las Mr. Bones den Spielbericht vom Vortag vor. Wenn die Orioles gewonnen hatten, klang seine Stimme fröhlich und aufgeregt. Hatten sie verloren, war sie traurig und bekümmert, manchmal sogar verärgert. Mr. Bones lernte, auf Siege zu hoffen und Niederlagen zu fürchten, aber er verstand nie so ganz, was Henry meinte, wenn er vom »Team« sprach. Ein Oriol war ein Pirol, kein Mann, und wenn das orangefarbene Wesen auf Henrys schwarzer Kappe tatsächlich ein Vogel sein sollte, wie konnte der sich dann mit so etwas Anstrengendem und Schwierigem wie Baseball befassen? Die neue Welt, die Mr. Bones betreten hatte, war voller Rätsel. Pirole kämpften gegen Tiger, Indianer schlugen sich mit Engeln, Bärenjunge fochten mit Giganten, und all das ergab überhaupt keinen Sinn. Ein Baseballspieler war ein Mann, doch kaum hatte er sich einem Team angeschlossen, verwandelte er sich in ein Tier, einen Mutanten oder einen Geist, der oben im Himmel wohnte, gleich neben Gott.
    Henry zufolge gab es unter den Vögeln in Baltimore einen, der sich vor allen anderen auszeichnete. Er hieß Cal, und obwohl er nur ein ballspielender Pirol war, schien er die Fähigkeiten mehrerer anderer Tiere in sich zu vereinen: die Ausdauer eines Arbeitspferdes, den Mut eines Löwen und die Kraft eines Bullen. All das war schon verwirrend genug, doch als Henry beschloß, daß Mr. Bones von nun an ebenfalls Cal heißen sollte - die Kurzform von Cal Ripken Junior der Zweite -, war der Hund endgültig verwirrt. Nicht daß er prinzipiell etwas dagegen gehabt hätte. Er war nicht in der Lage, Henry seinen richtigen Namen zu sagen, und da der Junge ihn ja irgendwie nennen mußte, schien Cal so gut wie jeder andere Name. Das einzige Problem war nur, daß dieser Name sich auf Al reimte, und die ersten paar Male, als Henry »Cal« sagte, fiel Mr. Bones automatisch Willys alter Freund, der adrette Al Sapperstein ein, dem dieser Kuriositätenladen an der Surf Avenue in Coney Island gehörte, in den sie öfter gegangen waren. Dann erschien Onkel Al vor seinem geistigen Auge, mit zitronengelber Fliege und Hahnentrittsakko, und Mr. Bones stand wieder in dem Laden und sah Willy die Regale entlangwandern und die Handkitzler, Furzkissen und explodierenden Zigarren begutachten. Es tat ihm weh, Willy so wiederzubegegnen, ihn so aus dem Schatten springen und umherstolzieren zu sehen, als würde er noch leben; und wenn man diese unwillkürlichen Erinnerungen mit Henrys ununterbrochenem Gerede über Cal, den Pirol, in Verbindung brachte und dabei berücksichtigte, daß Henry jedes zweite Mal, wenn er »Cal« sagte, eigentlich Mr. Bones meinte, war es nicht verwunderlich, daß der Hund sich nicht immer ganz sicher war, wer er denn nun eigentlich war oder sein sollte.
    Aber egal. Mr. Bones lebte erst seit kurzem auf dem Planeten Henry, und er wußte, daß er noch eine Weile brauchen würde, um sich dort wirklich heimisch zu fühlen. Nach einer Woche zusammen mit dem Jungen hatte er den Bogen schon fast raus, und wenn ihm der Kalender nicht einen üblen Streich gespielt hätte, wer weiß, welche Fortschritte sie gemacht hätten. Aber der Sommer war nun mal nicht die einzige Jahreszeit, und als es langsam soweit war, daß Henry wieder in die Schule mußte, war es mit den ruhigen Tagen des Wanderns und Redens und Drachensteigenlassens im Park auf einmal vorbei. In der Nacht, bevor er in die sechste Klasse kam, zwang sich Henry, wach zu bleiben. Er lag mit offenen Augen im Bett, bis er sich sicher war, daß seine Eltern schliefen. Kurz nach Mitternacht, als die Luft endlich rein war, schlich er sich die Hintertreppe hinunter, ging in den Hof und kroch zu Mr. Bones in den Karton. Er nahm den Hund in die Arme und erklärte ihm unter Tränen, daß von nun an alles anders werden würde. »Morgen, wenn die Sonne aufgeht«, sagte Henry, »wird der Spaß vorbei sein. Ich bin so ein Blödmann, Cal. Ich wollte dir einen anderen

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