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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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mochte, kaum noch ein. Mr. Bones’ Magen war noch nie glücklicher gewesen; zwar litt seine Verdauung ab und zu unter den zu scharfen Gewürzen oder Kräutern, doch schien vorübergehender Durchfall ein kleiner Preis für den großen Genuß zu sein. Der einzige Nachteil bei diesem berauschenden Ernährungsplan war der Stich der Ungewißheit in Mr. Bones’ Seele, den er immer dann verspürte, wenn seine Zunge auf einen unidentifizierbaren Geschmack stieß. Willys Vorurteile waren zu Mr. Bones’ Ängsten geworden, und wenn er auf etwas unbekanntes Neues biß, fragte er sich immer, ob er nicht einen Artgenossen fraß. Dann hörte er auf zu kauen und versteinerte vor Gewissensbissen, doch es war jedesmal zu spät. Schon floß ihm der Speichel, und da seine Geschmacksknospen nach mehr von dem verlangten, was sie gerade erst entdeckt hatten, siegte stets sein Appetit. Nach einer kurzen Pause tastete seine Zunge wieder nach dem Fressen, und bevor er sich noch ermahnen konnte, daß er eigentlich eine Sünde beging, war die Schüssel leer geschleckt. Darauf folgte unweigerlich ein Augenblick der Trauer. Und dann bemühte er sich, seine Schuldgefühle zu lindern, indem er sich sagte, er hoffe nur, mindestens genauso gut zu schmecken wie das, was er gerade gefressen hatte, falls ihn das gleiche Schicksal ereilen sollte.
    Henry kaufte mehrere Packungen Rettichsamen und pflanzte sie in die Erde neben Mr. Bones’ Pappkarton. Der Garten war seine Tarnung, und wann immer seine Eltern ihn fragten, warum er denn soviel Zeit im Hinterhof verbringe, brauchte er nur die Rettiche zu erwähnen, schon nickten sie beifällig und waren zufrieden. Merkwürdig, so spät im Jahr ein Gemüsebeet anzulegen, meinte sein Vater, aber Henry war auch auf diese Frage vorbereitet. Rettich keime nach achtzehn Tagen, sagte er dann, und man könne ihn noch ernten, bevor es kalt werde. Kluger Henry. Er hatte immer eine Ausrede parat, und mit seiner Gabe, seiner Mutter Münzen und einzelne Dollarscheine aus dem Portemonnaie zu stibitzen, sowie durch die nächtliche Plünderung der Küchenabfälle bereitete er sich und seinem neuen Freund ein durchaus angenehmes Leben. Es war ja nicht seine Schuld, daß sein Vater Mr. Bones mehrmals zu Tode erschreckte, wenn er mitten in der Nacht zum Gemüsebeet kam, um nachzuschauen, wie weit die Rettiche schon waren. Jedesmal, wenn der Strahl der Taschenlampe über den Boden vor Mr. Bones’ Karton fuhr, zitterte der Hund in der Dunkelheit seines Verstecks und war überzeugt, daß das Ende gekommen war.
    Ein- oder zweimal war der Geruch der Angst, den er dabei von sich gab, so beißend, daß Mr. Chow tatsächlich stehenblieb und schnupperte, als ahne er, daß etwas nicht stimmte. Aber er wußte nie, wonach er eigentlich suchte, und nach einem Augenblick verwirrten Nachdenkens gab er einen Schwall unverständlicher chinesischer Wörter von sich und kehrte ins Haus zurück.
    So schaurig die Nächte waren, Mr. Bones vergaß sie jedesmal sofort, wenn er am Morgen Henry sah. Ihre Tage begannen an der verborgenen Ecke direkt vor dem Müllcontainer und dem Zeitungsautomaten, und die folgenden acht oder zehn Stunden vergingen, als wären Restaurant und Pappkarton nur Schauerbilder aus einem Alptraum. Sie spazierten gemeinsam durch die Stadt, zogen ohne erkennbaren Plan von einem Ort zum anderen, und die Ziellosigkeit dieser täglichen Routine erinnerte Mr. Bones so sehr an die wilden Tage mit Willy, daß es ihm nicht schwerfiel zu erkennen, was von ihm erwartet wurde. Henry war ein Einzelkind, ein Junge, der es gewohnt war, allein zu sein und seinen Gedanken nachzuhängen, und nun, da er einen Begleiter hatte, mit dem er den Tag verbringen konnte, redete er ununterbrochen und beichtete auch noch die kleinsten und flüchtigsten Gedanken, die ihm durchs elfjährige Hirn schössen. Mr. Bones hörte ihm gern zu, er mochte den Wortschwall, der jeden ihrer Schritte begleitete, und da ihn diese monologischen Ergüsse zudem an sein totes Herrchen erinnerten, fragte er sich manchmal, ob Henry Chow nicht vielleicht der legitime Erbe von Willy G. Christmas war, oder gar seine Reinkarnation.
    Was nicht heißen soll, daß Mr. Bones immer verstand, worüber sein neues Herrchen redete. Henrys Interessen waren ganz anders gelagert als Willys, und meist hatte der Hund nicht den leisesten Schimmer, wovon der Junge redete, wenn er sich über seine Lieblingsthemen ausließ. Wie konnte man von Mr. Bones auch erwarten, daß er wußte, was der

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