Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
bemühte er sich, die Augen offenzuhalten. Er hielt nicht länger als ein, zwei Minuten durch, doch bevor ihn die Müdigkeit endgültig übermannte, schwirrten ihm schon die ersten Gedanken an Willy durch den Kopf, flüchtige Bilder aus vergangenen Tagen voller Rauchringe und Lucky Strikes, Bilder von all den verrückten Kapriolen ihres gemeinsamen Lebens, das so lange her zu sein schien. Zum erstenmal seit dem Tod seines Herrchens konnte er an diese Dinge denken, ohne gleich vom Kummer erschlagen zu werden, zum erstenmal begriff er, daß die Erinnerung ein Ort war, ein realer Ort, den man aufsuchen konnte, und daß es nicht unbedingt schlecht war, ein paar Augenblicke bei den Toten zu verweilen, sondern eine Quelle großen Trosts und großer Freude sein konnte. Dann schlief er ein, und Willy war noch immer bei ihm, war in all seinem brüchigen Glanz wiederauferstanden und tat so, als sei er blind, während Mr. Bones ihn die Stufen zur U-Bahn hinabführte. Es war dieser windige Tag im März vor viereinhalb Jahren, erkannte er, dieser komische Nachmittag voll großer Hoffnungen und enttäuschter Erwartungen, als sie gemeinsam nach Coney Island gefahren waren, um Onkel Al die Geruchssymphonie vorzuspielen. Willy hatte zur Feier des Tages eine Weihnachtsmannzipfelmütze getragen, und mit dem riesigen Plastikmüllsack über der Schulter, in den er das gesamte Material für die Symphonie gestopft hatte und der ihn zu einem leicht gebeugten Gang zwang, sah er wirklich so aus wie eine heruntergekommene Version des Weihnachtsmanns. Wohl wahr, daß die Sache nach ihrer Ankunft in Coney Island nicht so gut lief, aber das lag nur an Onkel Als schlechter Laune. Er war nicht Willys richtiger Onkel, sondern nur ein Freund der Familie, der Willys Eltern unter die Arme gegriffen hatte, als sie aus Polen gekommen waren, und er duldete Willy und Mr. Bones nur aus alter Treue zu Momsan und ihrem Mann in seinem Laden. Eigentlich hatte er auch mit dem Kuriositätengeschäft nichts am Hut, und da immer weniger Kunden in den Laden kamen, gab es Artikel, die schon seit zehn, zwölf oder gar zwanzig Jahren im Regal lagen. Inzwischen diente der Laden längst nur noch als Fassade für Onkel Als anderweitige, zumeist illegale Geschäfte, und wenn der zwielichtige Schwätzer nicht mit Wetten und dem Verkauf von Feuerwerkskörpern und gestohlenen Zigaretten Gewinn gemacht hätte, hätte er nicht einen Augenblick gezögert, die Tür zu diesem verstaubten Ramschladen für immer zu schließen. Keine Ahnung, welches Geschäft ihm an jenem windigen Märztag durch die Lappen gegangen war, doch als Willy mit seiner Geruchssymphonie in den Laden gelatscht kam und Onkel Al damit vollsülzte, daß diese Erfindung sie beide zu Millionären machen würde, stieß der falsche Neffe mit seinem Gerede bei dem Besitzer von »Whoopee-Land USA« auf taube Ohren. »Du hast sie doch nicht mehr alle, Willy«, sagte Onkel Al, »du bist komplett übergeschnappt, weißt du das?« Und damit setzte er ihn samt seinem Müllsack voller Gestank- und Geruchsproben und zusammenfaltbaren Pappkartonlabyrinthen vor die Ladentür. Willy, der sich durch ein bißchen Skepsis nicht abhalten ließ, war entschlossen, ihm zu beweisen, daß er tatsächlich eine der großartigsten Erfindungen aller Zeiten gemacht hatte, und machte sich voller Enthusiasmus daran, die Symphonie auf dem Bürgersteig aufzubauen. Doch an diesem Tag war es sehr böig, und kaum hatte Willy in den Müllsack gelangt und begonnen, die verschiedenen Bauteile der 7. Symphonie auszupacken (Handtücher, Schwämme, Pullover, Schuhe, Tupperdosen, Handschuhe), da riß der Wind sie mit sich fort und verstreute sie über die ganze Straße. Willy rannte hinterher, um sie wieder einzusammeln, doch als er den Müllsack losließ, wurde auch der weggeweht, und Onkel Al stand, trotz seiner angeblichen Freundlichkeit der Familie Gurevitch gegenüber, nur in der Ladentür und lachte.
    Das war vor viereinhalb Jahren geschehen, aber in Mr. Bones’ Traum in jener Nacht auf der Weide stiegen Willy und er nie aus der U-Bahn. Keine Frage, sie waren unterwegs nach Coney Island (die rotweiße Weihnachtsmannzipfelmütze, der übervolle Müllsack und das Blindenhundgeschirr, in dem Mr. Bones steckte, bewiesen es), doch am Nachmittag der echten Reise war der Waggon der Linie F ziemlich voll gewesen, und diesmal waren er und Willy die beiden einzigen Passagiere, die bis zur Endstation fuhren. Gerade als ihm das auffiel, drehte sich Willy zu

Weitere Kostenlose Bücher