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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Begriff war, durch das Loch unterm Zaun davonzukrabbeln, aber weil er nicht schnell genug war oder vielleicht zu spät die Flucht ergriffen hatte, schnappte ihn sein Vater, zog ihn auf die Beine und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Inzwischen war auch Mrs. Chow im flanellenen Nachthemd in den Hof gestürmt, und nun kam zu dem Lärm von Mr. Chows Gebrüll und Henrys sopranhellen Schreien auch noch ihre Stimme hinzu, die ihrem Unmut über Ehemann und Sohn Luft machte. Mr. Bones verkroch sich in die hinterste Ecke des Hofes. Er wußte, daß alles verloren war. Aus diesem Gezänk konnte nichts Gutes erwachsen, wenigstens nicht, was ihn anging, und so leid ihm Henry auch tat, am meisten bedauerte er sich selbst. Die einzige Lösung war, von hier zu verschwinden, seine Zelte abzubrechen und die Beine in die Hand zu nehmen.
    Er wartete, bis der Mann und die Frau den Jungen zum Haus zerrten. Als sie fast an der Hintertür angelangt waren, rannte er über den Hof und kroch unter dem Zaun hindurch. Er blieb einen Augenblick stehen und wartete, daß Henry durch die Tür verschwand. Gerade als der Junge hineingehen sollte, riß er sich von seinen Eltern los, drehte sich zu Mr. Bones um und rief mit angstvoller, durchdringender Stimme: »Cal, laß mich nicht im Stich! Laß mich nicht im Stich, Cal!« Wie zur Antwort auf die Verzweiflung seines Sohnes hob Mr. Chow einen Stein auf und schleuderte ihn nach Mr. Bones. Der Hund sprang instinktiv zurück, aber im selben Augenblick schämte er sich, nicht standhaft geblieben zu sein. Er sah den Stein harmlos vom Maschendrahtzaun abprallen. Dann bellte er dreimal zum Abschied und hoffte, daß der Junge verstand, was er ihm sagte. Mr. Chow öffnete die Tür, Mrs. Chow schubste Henry ins Haus, und Mr. Bones begann zu laufen.
    Er hatte keine Ahnung wohin, aber er wußte, er durfte nicht stehenbleiben, er mußte weiterlaufen, bis seine Beine nachgaben oder ihm das Herz in der Brust zersprang. Wenn es irgendeine Hoffnung oder nur den leisesten Hauch einer Chance für ihn gab, die nächsten paar Stunden zu überleben, von den nächsten paar Tagen ganz zu schweigen, mußte er aus Baltimore verschwinden. Alles Böse lebte in dieser Stadt. Sie war ein Ort des Todes und der Verzweiflung, der Hundehasser und der China-Restaurants, und er war nur um Haaresbreite dem Schicksal entronnen, als Appetithäppchen in einer kleinen weißen Pappschachtel zum Mitnehmen zu landen. Schade um den Jungen, aber wenn man bedenkt, wie schnell sich Mr. Bones an sein neues Herrchen gewöhnt hatte, war es schon erstaunlich, wie wenig er es bedauerte, verschwinden zu müssen. Der Pappkarton hatte sicherlich auch etwas damit zu tun. Die Nächte, die er darin verbracht hatte, waren nahezu unerträglich gewesen, und wozu war ein Zuhause gut, wenn man sich dort nicht sicher fühlte, wenn man genau dort, wo man Zuflucht finden wollte, wie ein Aussätziger behandelt wurde? Ein lebendes Wesen in einen dunklen Karton zu sperren war nicht recht. Das wurde mit einem gemacht, wenn man tot war, aber solange man lebte, solange man noch ein wenig Mumm in den Knochen hatte, schuldete man es sich selbst und allem auf der Welt, was noch heilig war, sich nicht in solch eine unwürdige Lage zu bringen. Am Leben sein hieß Atmen, Atmen hieß freie Natur, und die freie Natur war überall, nur nicht in Baltimore, Maryland.

 
4
     
    Drei Tage lang lief Mr. Bones weiter, und während dieser ganzen Zeit legte er kaum eine Rast ein und suchte sich auch nichts zu fressen. Als er schließlich stehenblieb, befand er sich irgendwo im nördlichen Virginia und streckte auf einer Weide neunzig Meilen westlich vom Hinterhof der Chows alle viere von sich. Zweihundert Meter vor ihm ging die Sonne hinter einem kleinen Eichenhain unter. In einiger Entfernung schössen ein halbes Dutzend Schwalben hin und her und glitten auf Mückenfang über das Feld, und in der Dunkelheit der Zweige hinter ihm tschilpten die Vögel ein paar letzte Strophen, bevor sie sich zur Nachtruhe begaben. Mr. Bones lag schwer atmend und mit heraushängender Zunge im hohen Gras und fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn er die Augen schloß - und ob er sie am Morgen wieder aufschlagen würde, so müde und hungrig, so durcheinander war er von der Tortur dieses Marathons. Gut möglich, fand er, daß er nicht wieder aufwachte, wenn er jetzt einschlief.
    Er sah zu, wie die Sonne hinter den Bäumen versank, und während die Dunkelheit sich langsam um ihn ausbreitete,

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