Timeless: Roman (German Edition)
Füßen begann Michele, mit einem unsichtbaren Partner zu den Klängen zu tanzen, genauso wie es der junge Mann in ihrem Traum mit ihr getan hatte. Sie konnte den gut aussehenden Fremden nicht sehen, doch sie spürte, wie er zu ihr herablächelte und sich mit ihr drehte. Als sie zu der Musik in ihrem Kopf tanzte, überlegte sie zum x-ten Mal, ob sie gerade dabei war, den Verstand zu verlieren … doch dieses Mal war es ihr gleichgültig.
»Michele! Was um Himmels willen tust du hier?«
Michele schreckte hoch und stellte fest, dass sie auf dem kalten Boden des Ballsaals lag. Durch die Glastüren strömte das Morgenlicht herein. Annaleigh stand wie erstarrt in der Tür.
»Ich … ich bin wohl schlafgewandelt. Habe es manchmal in Kalifornien gemacht«, schwindelte Michele und erhob sich mit steifen Gliedern.
»Als du heute nicht beim Frühstück erschienen bist und auch nicht in deinem Zimmer warst, habe ich mir Sorgen gemacht«, bemerkte Annaleigh vorwurfsvoll und begleitete Michele aus dem Ballsaal. »Ich habe den Koch veranlasst, dir dein Frühstück einzupacken, damit du unterwegs etwas zu essen hast. Du solltest dich jetzt beeilen, wenn du pünktlich zur Schule kommen willst.«
»Danke, Annaleigh. Tut mir leid, dass Sie sich Sorgen gemacht haben.«
Annaleigh betrachtete sie aufmerksam. »In einem so großen Haus wie diesem ist das Schlafwandeln recht gefährlich. Ich werde dich bei der Ärztin der Windsors anmelden – sicherlich kann sie etwas verschreiben, damit du wieder normal schlafen kannst.«
»Nein, mir geht’s gut«, fiel ihr Michele schnell ins Wort. »Es ist nicht der Rede wert. Wird wohl nicht wieder vorkommen.«
»In Ordnung«, erwiderte Annaleigh, wirkte jedoch nicht überzeugt. »Wenn es nicht wieder passiert.«
»Wird es nicht«, versicherte Michele. »Ich mache mich jetzt für die Schule fertig.«
Als Michele wieder in ihrem Zimmer war, kleidete sie sich in Windeseile an, doch die ganze Zeit war ihr Kopf wie benebelt. Immer noch sah sie seine Augen vor sich, spürte immer noch die elektrisierende Berührung seiner Hand, die ihre umfasste – wer immer er sein mochte.
Die Musik hallte in ihrem Kopf wider, und sie summte leise, während sie sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Als sie in den Spiegel blickte, hätte sie schwören können, dass sie etwas Blaues aufblitzen sah – seine Augen, die sie beobachteten.
6
A ls Michele am Nachmittag von der Schule heimkam, rannte sie gleich hoch in ihr Zimmer und griff nach dem Tagebuch. Doch bevor sie Claras nächsten Eintrag las, warf sie einen Blick in den Spiegel und begutachtete ihre Schuluniform. Sie wollte Clara nicht wieder mit einem »grauenhaften« Outfit entsetzen. Vielleicht würde es sie beruhigen, wenn sich Michele etwas … klassischer kleidete.
Sie durchsuchte ihren Kleiderschrank und stieß auf ein Kleid, das sie vor einem Jahr bei einer Hochzeit getragen hatte: ein schillerndes langes blaues Kleid aus Chiffon mit dreiviertellangen Spitzenärmeln. Sie drehte ihr Haar zu einem Knoten und musste unwillkürlich kichern, als sie sich im Spiegel betrachtete. Sie sah aus wie eine altmodische Ballerina. Doch in dieser Aufmachung würde sie vermutlich viel besser ins Jahr 1910 passen.
Michele kritzelte ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier und legte es aufs Bett, für den Fall, dass sie nicht rechtzeitig zum Abendessen zurück war. Ich gehe jetzt zur Studiengruppe und esse dann mit ein paar Leuten aus der Schule zu Abend. Weiß nicht, wie lange ich weg bin. Bis später.
Sie hoffte inständig, dass ihre Großeltern und Annaleigh ihr Alibi nicht überprüften. Als sie nach dem Generalschlüssel auf ihrer Kommode griff, musste sie wieder an ihren ständig wiederkehrenden Traum denken. Spontan öffnete sie ihre Schmuckschatulle und wühlte darin herum, bis sie eine schlichte Goldkette fand. Sie befestigte den Schlüssel an der Kette und legte sich den behelfsmäßigen Halsschmuck um. Dann wandte sich Michele wieder ihrem Spiegelbild zu und erschauderte – es war, als sähe sie das Bild aus ihrem Traum vor sich. Ihre Hand umfasste den Schlüssel, und plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sie die Kette nie mehr ablegen dürfte.
Michele griff wieder nach dem Tagebuch, und ihre Finger zitterten voller Erwartung, als sie den zweiten Eintrag vom 25. 10. 1910 zu lesen begann. Wenn sie den Schlüssel auf den Eintrag in dem alten Tagebuch legte, müsste das Phänomen vom 10. Oktober doch zu wiederholen sein, überlegte sie. Und wenn es
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