Timeless: Roman (German Edition)
und dem Fernsehen kannte – einen hochmodernen Platz, umgeben von schicken Restaurants, dem W Hotel, Bürotürmen und den Gebäuden der New Yorker Universität. Doch dieser Union Square war ganz anders. Er war von vielen Häuserblöcken mit prachtvollen Warenhäusern und Fachgeschäften umgeben, die an die berühmten Einkaufsboulevards in Paris erinnerten. Überall am Straßenrand standen elegante Kutschen und wurden von Lakaien bewacht. Michele erkannte einige der Namen auf den Markisen der Geschäfte, wie z. B. Lord & Taylor und Tiffany & Co, die sogar noch nobler aussahen als die modernen Versionen in der Fifth Avenue.
»Hier sind wir also in der Ladies’ Mile«, verkündete der Kutscher und sprang vom Kutschbock, um den Damen beim Aussteigen zu helfen.
Clara und die Windsor-Damen stiegen aus, und Michele folgte ihnen, als sie das Lord &Taylor betraten. Zwei junge Männer in Geschäftsanzügen kamen sofort auf Henrietta und Violet zu, zeigten ihnen ihre aktuellen Produkte und drängten sie, die neuesten Handschuhe und Schmuckstücke anzuprobieren. Michele fand die beiden jungen Männer recht aufdringlich, doch lediglich Clara schien sich bedrängt zu fühlen. Violet und Henrietta machten den Eindruck, mit den beiden geschäftstüchtigen Verkäufern höchst zufrieden zu sein.
»Clara, bitte trödle nicht herum, sonst bleibt uns nicht genug Zeit, um uns für den Ball herzurichten«, rief Henrietta plötzlich scharf.
Clara errötete und beeilte sich, sie einzuholen.
Ein Verkäufer in Livree überreichte einer der Windsor-Zofen ein riesiges Kleiderbündel, und die Zofe führte Clara in die Umkleidekabine. Einige Minute später trat Clara wieder heraus. Sie trug ein glänzendes perlenbesetztes Abendkleid mit einem weißen Seidenüberrock und Mieder über einem weißbeigen Brokatunterrock.
»Wow!« , flüsterte Michele Clara zu, die schüchtern lächelte. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich Violets Miene beim Anblick von Claras atemberaubender Robe verfinsterte.
»Das genügt«, erklärte Henrietta desinteressiert. Sie wandte sich ab, um der anderen Zofe Anweisungen zu erteilen. Als sie außer Hörweite war, erklärte Violet: »Nun, für Lord & Taylor ist es sehr hübsch. Aber die elegantesten Kleider kommen von Worth aus Paris. Wie mein heutiges Ballkleid sowie das von Mutter natürlich. Ich frage mich , weshalb Vater dein Abendkleid nicht auch dort bestellt hat.«
»Ich bin dankbar für alles, was dein Vater für mich getan hat«, erwiderte Clara steif.
»Das solltest du auch«, erwiderte Violet. »Ich kann dir nur raten, seine Großzügigkeit so gut wie möglich zu nutzen, denn wer weiß, wie lange diese Laune noch anhält. Schließlich gehörst du nicht zur Familie.«
Sichtlich verletzt senkte Clara den Blick. Obwohl Michele wusste, dass Violet sie nicht sehen konnte, konnte sie es sich nicht verkneifen, ihr einen bösen Blick zuzuwerfen.
»Clara, bitte, zieh dich um, damit wir gehen können«, rief Henrietta mit der für sie typischen frostigen Stimme.
Clara eilte zurück in die Umkleidekabine, eine der Zofen im Schlepptau, die ihr beim Umkleiden helfen sollte. Als sie sich im Nachmittagskleid wieder zu Henrietta und Violet gesellte, zögerte sie einen Augenblick, als überlegte sie, ob sie ihnen folgen oder weglaufen sollte.
Es war dreiundzwanzig Uhr und der Ball der Windsors steuerte auf den Höhepunkt zu. Michele saß unsichtbar am Fuß der großen Treppe und beobachtete die umwerfenden Damen und distinguierten Herren, die durch die Eingangstüren hereinströmten und den Ballsaal betraten oder wieder verließen. Michele hatte den Eindruck, dass all die Gäste darauf aus waren, einander mit ihren Halloween-Kostümen zu übertrumpfen – eines war spektakulärer als das andere. Sie sehnte sich nach ihrer Mom, wünschte, Marion wäre hier, um mit ihr gemeinsam die oberen Zehntausend in Kostümen von historischen Gestalten, Göttinnen, Königen und Königinnen oder Zigeunern an sich vorbeiziehen zu sehen. Doch niemand vermochte es, die Windsors in den Schatten zu stellen.
George Windsor war als Ludwig XVI . verkleidet. Er trug einen bestickten cremefarbenen Satinumhang über einem verzierten weißen Hemd, silberfarbene Beinkleider aus Satin und Seidenstrümpfe. Zu seinem Kostüm gehörten außerdem eine gepuderte Perücke unter einem federgeschmückten Dreispitz sowie ein Diamantschwert, das er stolz mit sich herumtrug. Michele kicherte, weil ihr Urururgroßvater so lächerlich aussah – aber
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