Timeless: Roman (German Edition)
bildeten einen aufreizenden Schmollmund. Sie trug ein bodenlanges Kleid aus elfenbeinfarbenem Satin, mit Rüschen versehen und einer langen Schleppe. Trotz des aufwendigen Kleids konnte Michele erkennen, dass sie eine beneidenswerte Figur besaß – hochgewachsen und schlank mit Kurven an den richtigen Stellen. Diese Leute takeln sich ganz schön auf, um einkaufen zu gehen , dachte Michele und weidete sich an dem Anblick von Violets Rehleder-Handschuhen, den Reihen weißer Perlen und dem extravaganten Hut, ebenso erlesen wie der von Clara.
Neben Violet stand eine ältere Frau. Michele vermutete, dass es sich um Henrietta Windsor handelte, Violets Mutter. Sie musste in den Vierzigern sein, denn ihr jüngstes Kind war erst zehn. Dennoch sah sie deutlich älter aus als die gleichaltrigen Frauen in Micheles Zeit. Henriettas kupferfarbenes Haar war mit Grau durchzogen, kein Make-up kaschierte die feinen Linien und Falten in ihrem Gesicht. Dennoch strahlte sie etwas Majestätisches aus. In ihrem Kleid aus schwarzem Samt und den Perlen sah sie stark und stolz aus. Ihr Hut übertraf noch die von Clara und Violet, da er nicht nur mit Federn, sondern dazu mit künstlichen Früchten geschmückt war.
Die anderen beiden Damen waren junge Mädchen. Eine von ihnen kannte Michele vom ersten Treffen mit Clara. Respektvoll hielten sie sich etwas abseits. Beide trugen schlichte schwarze Röcke und weiße Blusen, die in die Röcke gesteckt waren. Zwei Lakaien standen links und rechts der Eingangstüren des Herrensitzes. Bei ihrem Anblick musste Michele kichern, denn sie fand, dass sie aussahen, als seien sie gerade dem Film Cinderella entsprungen. Sie trugen gestreifte Westen, graue Kniehosen über weißen Strümpfen und schwarze Lacklederschuhe im Louis- XVI. -Stil.
Als Clara und Michele am Treppenende anlangten, nickte Henrietta Windsor Clara kurz zu.
Clara deutete einen Knicks an, deutlich bestrebt, ihre Pflegemutter für sich einzunehmen. Violet registrierte Claras Anwesenheit lediglich dadurch, dass sie die Augen zusammenkniff, und es war nicht zu übersehen, dass sie über den neuen Familienzuwachs keineswegs entzückt war.
»Wir sind jetzt fertig«, verkündete Henrietta den Bediensteten.
Eilig rissen die Lakaien die Eingangstüren auf und begleiteten die beiden Windsor-Damen, Clara und die Zofen der Damen zu der Pferdekutsche, die vor der Einfahrt auf sie wartete. Die Lakaien halfen den Damen beim Einsteigen. Henrietta bestieg die Kutsche als Erste, die Zofen zuletzt. Die unsichtbare Michele kletterte nach ihnen hinein und quetschte sich zwischen Clara und eine der Zofen.
»Wow«, flüsterte Michele, begeistert von dem eleganten und gemütlichen Kutscheninneren, das mit kastanienbraunem Seidenstoff gepolstert und von vergoldeten Lampen erhellt war.
Als sie Windsor Mansion hinter sich gelassen hatten, erhaschte Michele den ersten Blick auf das New York der Jahrhundertwende. Sie stieß einen erstaunten Laut aus. Es war völlig anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Die hoch in den Himmel ragenden Wohn- und Bürogebäude sowie die eleganten Geschäfte im Umkreis der Fifth Avenue waren verschwunden; an ihrer Stelle erblickte sie große Marmor- und Kalksteinhäuser. Jetzt stand neben Caissie Harts Wohnblock ein imposantes Herrenhaus aus rotem Backstein und weißem Stein, mit Giebeln und Balkonen, die zum Central Park und auf die Fifth Avenue hinausgingen. Das ist wohl das alte Walker Mansion , überlegte Michele. Es erinnerte sie an ein französisches Schloss.
Von den modernen Autos, die durch das Straßenlabyrinth brausten, war keine Spur zu sehen, doch bereits 1910 waren die Kopfsteinpflasterstraßen vom Verkehr verstopft. Alle möglichen Kutschen, ein paar altmodische Pferdewagen und mehrere kastenförmige Autos wie Henry Fords Model T füllten die Straßen. An überfüllten Kreuzungen standen Polizisten oder saßen auf Pferden und versuchten, den Verkehr zu regeln. Extravagant gekleidete Fußgänger warteten auf den richtigen Augenblick, um die Straße zu überqueren. Oben keuchte eine Dampflokomotive auf hoch angelegten Schienen. In Micheles Ohren klang das Gerumpel der ersten Autos, das Bimmeln von Straßenbahnen und der Hufschlag von Pferden wie eine seltsame Sinfonie.
Der Kutscher der Windsors arbeitete sich durch den Verkehr und hielt dann am Broadway Ecke Fourteenth Street. Michele musste die Straßenschilder zweimal lesen, da sie nicht glauben konnte, dass dies der Union Square sein sollte, den sie aus Filmen
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