Timeless: Roman (German Edition)
aller Öffentlichkeit mit ihrem Freund schmuste.
»Also, ich weiß wirklich nicht, was du meinst«, gab Michele zu. »Die Vierhundert von New York?«
Olivia starrte sie an, eindeutig erstaunt über ihre Unwissenheit. Renee, eines der anderen Mädchen, erklärte hastig: »Caroline Astor hat vom Ende des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die New Yorker Gesellschaft beherrscht, und sie ist die berühmteste Angehörige der oberen Zehntausend in der Geschichte Amerikas. Sie hat eine Liste der vierhundert bedeutendsten Persönlichkeiten New Yorks erstellt, die sie zu ihren Bällen einlud, da nur vierhundert Menschen in ihren Ballsaal passten. Genial, nicht wahr?«
»Total genial«, erwiderte Michele trocken, doch keines der Mädchen schien die Ironie zu bemerken. Auf der anderen Seite des Speisesaals entdeckte sie Caissie, die neben einem hübschen Afroamerikaner saß. Michele vermutete, dass es sich um Aaron handelte, den Jungen, von dem Caissie erzählt hatte. Aus irgendeinem Grund schien es die beiden zu ärgern, dass Michele mit den drei Mädchen zusammensaß.
»Auf jeden Fall war es für Angehörige der New Yorker Gesellschaft die höchste Ehre, zu den Vierhundert zu zählen«, fuhr Renee fort. »Man wurde in sämtlichen Zeitungen erwähnt und besaß nicht wenig Einfluss. Die Vierhundert setzten sich aus den zweihundert prominentesten Familien Amerikas zusammen. Und wir stammen von ihnen ab.«
Amy warf dem Liebespaar, das von Freunden umringt war, einen finsteren Blick zu. »Doch heutzutage wird unsere Bedeutung nicht mehr erkannt, und die Leute kümmern sich lieber um den neuesten Tratsch über Promis, die gerade ›in‹ sind.«
»Nun, das liegt vermutlich daran, dass wir ja nichts getan haben, um irgendwelche Aufmerksamkeit zu verdienen, sondern unsere Urururgroßeltern«, bemerkte Michele.
»Wie bitte?« , fragten Renee und Olivia fassungslos.
»Nun, so ist es doch«, erwiderte Michele sanft. »Und ehrlich gesagt habe ich keinerlei Bedürfnis, die Gesellschaft oder überhaupt jemanden zu beherrschen. Ich möchte nur das Jahr hier schaffen.«
»Wart’s ab, dein Stolz wird schon noch aufflammen«, beharrte Amy.
Als Olivia mit einem Vortrag über das legendäre Privileg begann, zu den Vierhundert zu gehören, ließ Michele ihre Gedanken abschweifen. Wenn diese Mädchen die Einzigen waren, die sich in dieser Schule als Freundinnen anboten, würde sie lieber zur Einzelgängerin werden. Sie dachte an ihr Leben mit Marion und ihre Freundinnen in Kalifornien, kniff dann aber die Augen zusammen und versuchte, sie aus ihren Gedanken zu verbannen. Dieses Leben war jetzt vorüber.
Michele hätte nichts lieber getan, als der derzeitigen Realität zu entfliehen. Clara Windsors Tagebuch kam ihr in den Sinn. Zugegeben, vielleicht war das Ganze nur eine verrückte Halluzination … vielleicht war es aber auch real. Und wenn es real gewesen war, war es vielleicht nicht so furchtbar, wie sie annahm. Möglicherweise bot es ihr einen Ausweg.
In dieser Nacht träumte Michele erneut von dem schönen Fremden mit den faszinierenden blauen Augen.
Bei einem Ball im Windsor Mansion hielt er sie in seinen Armen. Ein Orchester spielte Schuberts aufwühlende Serenade. Schwerelos schwebten sie zu den Walzerklängen dahin. Sie blickte strahlend zu ihm hoch, und auch er lächelte sie an.
Plötzlich jedoch sah Michele die Szene aus einer anderen Perspektive. Sie lag nicht mehr in den Armen des jungen Mannes. Er tanzte allein, aber es sah so aus, als habe er eine unsichtbare Tanzpartnerin. Er lächelte ins Nichts und hielt eine unsichtbare Taille umfangen. Die Ballgäste starrten ihn verständnislos an und tuschelten. Ich lebe ja gar nicht, dachte Michele voller Entsetzen .
Sie schreckte hoch, versuchte aber nicht, wieder einzuschlafen. Stattdessen griff sie nach ihrem Morgenmantel und ging auf Zehenspitzen die zwei Treppen zum Ballsaal hinunter. Sie holte tief Luft, riss die Tür auf und knipste das Licht an.
Der Ballsaal sah genauso aus wie der in ihrem Traum – keine Gäste, kein Orchester, keine glitzernden Roben und funkelnden Juwelen, doch es war eindeutig derselbe Saal. Plötzlich hatte Michele das unheimliche Gefühl, nicht allein zu sein. Sie vernahm vereinzelte Geräusche – das leise Lachen eines Mannes, das Kichern einer Frau, das knisternde Geräusch von Ballroben, die einander auf dem Tanzparkett streiften. Und dann hörte sie die Melodie, die seit jeher ihre Träume beherrschte.
Im Nachthemd und mit bloßen
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