Timeless: Roman (German Edition)
sodass sie Lily nicht mehr den Rücken zukehrte.
»Das ist ja fantastisch«, rief Lily begeistert. »Die Texte sind sehr raffiniert, genau das Richtige für einen Vamp wie mich. Ragtime ist zwar überholt, aber es gibt eine neue Richtung, die ihm ähnelt und gut zu diesem Song passen würde. Sie heißt Big Band, hast du schon davon gehört?«
»Ja, da steh’ ich total drauf«, erwiderte Michele enthusiastisch. »Und? Willst du die Songs singen?«
»Ja«, stimmte Lily zu. »Und ich muss zugeben, du bist ziemlich talentiert.«
Micheles Wangen röteten sich vor Stolz. Wenn nur Mom hören könnte, wie die große Lily Windsor mich lobt.
»Ich hab ja nur den Text geschrieben«, sagte sie bescheiden. »Und mein Co-Autor hat die Musik komponiert.«
»Nun, der Text ist etwas ganz Besonderes«, bemerkte Lily. »Du solltest meine Komplimente genießen, denn ich werfe damit nicht gerade um mich, weißt du.«
»Danke«, strahlte Michele. »Vielen, vielen Dank.«
Am nächsten Morgen wachte Michele in einem fremden, aber herrlich behaglichen Doppelbett auf. Sie blickte auf die große Standuhr auf der anderen Seite des Zimmers. Plötzlich erstarrte sie. Es war zehn Uhr. O Gott, ich bin hier eingeschlafen. Wenn ich in meine Zeit zurückkehre, werde ich todmüde sein . Sie bemühte sich, den Gedanken zu verdrängen, und konzentrierte sich stattdessen auf Lily. Sie musste unbedingt Lily nach Hause bringen, bevor ihre Eltern misstrauisch wurden und die Wahrheit herausfanden. Sie sprang aus dem Bett und rüttelte Lily sanft. »Lily, wir müssen gehen.«
Lily schwang sich ebenfalls aus dem Bett und wischte sich schnell das Make-up ab, das sie letzte Nacht vor Müdigkeit nicht entfernt hatte. Sie schlüpfte in einen konservativen Pullover und Rock und stülpte sich einen breitkrempigen Hut über, der ihr Gesicht zur Hälfte verbarg. Nachdem Michele ihr versichert hatte, dass sie sich so ihren Eltern zeigen konnte, eilten die Mädchen zur Rezeption, um auszuchecken.
Zurück im Windsor Mansion, begrüßte sie ein hochgewachsener Butler in Uniform an der Tür. »Guten Morgen, Lily. Sie kommen gerade rechtzeitig zum Frühstück.«
»Ich muss jetzt gehen«, flüsterte Michele Lily zu.
»Oh, noch nicht«, beharrte Lily, als sie außer Hörweite des Butlers waren. »Bitte, bleib noch bis nach dem Frühstück.«
»Gut … einverstanden.« Michele folgte ihr ins Esszimmer und überlegte, dass eine weitere Stunde Verspätung jetzt auch nicht mehr ins Gewicht fallen würde.
»Hallo, Mutter, Vater«, rief Lily und ging auf sie zu, um ihnen einen Kuss auf die Wange zu geben, bevor sie ihren Platz ihnen gegenüber einnahm. Michele schlüpfte auf den leeren Stuhl neben ihr.
»Guten Morgen, Liebes«, erwiderte Mr. Windsor, bearbeitete seine Grapefruit und überflog die Schlagzeilen der New York Times. Obwohl es Samstagmorgen war, war er gekleidet, als würde er ins Büro gehen: Er trug eine kurze Anzugjacke, eine zweireihige Weste und eine ausgestellte Hose.
»Wie war die Pyjama-Party?«, fragte Mrs. Windsor in dem melodischen, altmodischen Ton, den man ihn aus Schwarz-Weiß-Filmen kannte. Wie Lily hatte sie kastanienbraunes Haar, das ihr in Wellen auf die Schultern fiel, trug einen langen Wollpullover über einem knöchellangen Faltenrock und eine lange Perlenkette.
»Oh, es war sehr schön«, erwiderte Lily leichthin. »Wer steht heute in der Zeitung, Daddy? Jemand Bekanntes?«
»Leider, ja. John Singer Sargent erlag einem Herzanfall«, erwiderte Mr. Windsor traurig.
»O nein!«, rief Lily. »Das ist ja grauenhaft. Wenn ich mir vorstelle, dass er erst vor Kurzem mein Porträt gemalt hat. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich ihn nie wiedersehen würde.«
Michele ließ den Kopf hängen. Das Porträt von Lily Windsor, das in ihrem Wohnzimmer hing, stammte also von John Singer Sargent? Er war einer der bekanntesten amerikanischen Maler. Von klein auf hatte Michele seine Werke im Museum bewundert. Ob auch Claras Porträt von Sargent stammte?
»Natürlich gehen wir zur Beerdigung«, erklärte Mrs. Windsor.
Als die Unterhaltung richtig in Gang gekommen war, lehnte sich Michele zurück und lauschte fasziniert dem Gespräch über das Tagesgeschehen vor fünfundachtzig Jahren. Als es um Politik ging, zappelte Lily vor Langeweile, doch Michele hörte aufmerksam zu. Sie erfuhr, dass der augenblickliche Präsident Calvin Coolidge hieß, und dass Mr. und Mrs. Windsor ihn wegen seiner Steuersenkungen zu verehren schienen. In Wyoming war gerade
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