Timeless: Roman (German Edition)
unmöglich, dass dieses lebhafte, liberal denkende Mädchen einmal die Mutter eines so steifen, konservativen Sohns wie Walter sein würde. Und plötzlich fiel ihr einer der seltenen Kommentare ihrer Mutter über ihre Familie ein: »Großmutter erzählte mir, dass mein Vater sich verändert habe, als er sich in meine Mom verliebte. Natürlich war er immer viel reservierter als Lily, was meiner Meinung nach seine Art war, sich seine Unabhängigkeit zu bewahren, schließlich war er das einzige Kind einer so starken Persönlichkeit wie Lily. Doch meine Mutter stammte aus einer sehr strengen, snobistischen Neu-England-Familie. Sie hatte selbst einen sehr ausgeprägten Charakter, aber auf eine andere Art. Dad hat sich Moms Gedanken und Glaubensrichtungen angeschlossen. Während meine Großmutter die High Society langweilig fand, ließen meine Eltern ihr Leben von dieser bestimmen. Manchmal denke ich, dass Dad meine Verlobung mit Henry Irving akzeptiert hätte, wenn Mom nicht dagegen gewesen wäre.«
Michele sah Lily an, plötzlich traurig, dass die Lebensfreude und der Schwung ihrer Urgroßmutter nicht auf ihr einziges Kind abgefärbt hatten.
15
A ls die Mädchen an jenem Abend ins Plaza zurück kehrten, machten sie es sich in ihrem dekadenten Zimmer im 14. Stock gemütlich, das sie mit Lilys »Notgroschen« bezahlt hatten. Der Raum hatte zwei offene Kamine aus Marmor, verzierte Kronleuchter und bot Sicht auf die Fifth Avenue und die Grand Army Plaza, einen runden Hof vor dem Hotel mit einer Reiterstatue von General Sherman, der sich im Bürgerkrieg verdient gemacht hatte. Als sich Michele umsah, nahm sie sich fest vor, bei der nächsten Zeitreise unbedingt ihre Digitalkamera mitzu bringen. Ihre innere Stimme, die sie mahnte, dass sie ihre A usgehzeit längst überschritten hatte, war zu leise – längst hatten Lilys sorglose Ausgelassenheit und New Yorks Jazz-Glamour auf sie abgefärbt, und Michele war einfach zu überdreht, um auf die Zeit zu achten.
Lily bestellte Hühnchen, Schinkentorte, kleine Törtchen und Apfelsaft aufs Zimmer, und die beiden Mädchen ließen es sich gut gehen.
»Heute Abend haben wir es denen aber gezeigt«, seufzte Lily glücklich. »Ich bin dir so dankbar!«
»Ich bin auch verdammt zufrieden mit mir«, grinste Michele.
»Nun bin ich aber dran, etwas für dich zu tun«, sagte Lily großzügig. »Wie wär’s, wenn du mir jetzt deine Lieder vorträgst?«
Michele erstarrte. Anfangs war sie voller Zuversicht gewesen, aber jetzt – nachdem sie erlebt hatte, wie Lily den Club zum Kochen gebracht hatte, kam es ihr völlig lächerlich vor, für ihre Urgroßmutter zu singen. Was, wenn diese Micheles Songs nun gar nicht mochte? »Ich weiß nicht, ich bin eine grauenhafte Sängerin …«
»Na ja, deswegen schreibst du ja Texte«, erwiderte Lily sachlich. »Nun mach schon. Ich finde es unheimlich spannend, welche Art von Musik ein Geist mir zu bieten hat.«
»Okay, dann geht’s los.« Michele wandte sich zur Tür um, damit sie Lily beim Singen nicht ansehen musste. Sie beschloss, mit »Bring die Farben zurück« zu beginnen.
Warum nur ist die Welt, wenn du fort bist,
so Grau in Grau?
Nur du erfüllst sie mit Farben.
Als sie ihr Lied beendet hatte, drehte sie sich nervös zu Lily um und sah, dass diese sie ungläubig anlächelte.
»Was deinen Gesang angeht, hast du völlig recht, aber das Lied ist großartig«, rief Lily. »Es ist genau die Art Musik, die ich gern singe. Doch ich würde es gern ein bisschen jazziger singen. Ungefähr so:
Warum fühle ich mich so leer?
Wie ein Himmel ohne Sonne?
Füll meine Leere mit Glück
Und bring die Farben zurück.
Lily sang wunderschön.
»Das klingt super, das ist der Wahnsinn«, rief Michele.
»Wahnsinn?« Verwirrt runzelte Lily die Stirn.
»Ich meine, hm, großartig«, lachte Michele.
»Hast du das Lied einem Verehrer gewidmet?«, fragte Lily neugierig. »Sieht er gut aus?«
Michele nickte und schluckte schwer. »Ja, sehr.«
»Ich habe noch nie so für jemanden empfunden«, gestand Lily. »Aber ich habe tiefe Gefühle, wenn es um die Musik und das Singen geht. Darin finde ich … die Farben in meiner Welt.« Sie lächelte ein bisschen schief.
Michele lächelte ebenfalls, glücklich, dass Lily ihre Texte gut fand.
»Lass mich das andere auch noch hören.« Lily sah sie erwartungsvoll an.
»Okay. Versuch, dir dieses im Ragtime-Rhythmus vorzustellen.« Michele sang »Jag der Zeit hinterher« und fühlte sich jetzt etwas selbstsicherer,
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