Timeless: Roman (German Edition)
Louis Armstrong – den berühmtesten Jazztrompeter des 20. Jahrhunderts. Natürlich, deswegen war ihr das Trompetenspiel so bekannt vorgekommen.
»Ich kann nicht fassen, dass ich Louis Armstrong persönlich erlebe«, sagte Michele zu Lily. Doch diese schien keineswegs in Ehrfurcht zu erstarren. Armstrong schien wohl noch am Anfang seiner Karriere zu stehen.
»Schau, wie nah wir bei Fletcher Henderson sind!«, rief Lily aus und deutete auf den Pianisten, der wie ein Besessener spielte.
»Wie heißt du denn, mein Schatz?«, erkundigte sich der Mann und holte eine Zigarre aus der Tasche.
»Li … Contessa Crawford«, erwiderte Lily und errötete. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Und Sie sind …?«
»Ich bin Thomas Wolfe, ich produziere die Shows hier.« Thomas warf dem Pianisten einen Blick zu; dieser antwortete mit einem freundlichen Nicken. Lily riss die Augen auf.
»Warum haben Sie mir geholfen?«, platzte sie heraus.
»Nun, Sie taten mir einfach leid. Ich vermute, Sie sind zu jung für dieses Lokal, aber ich kann doch nicht zulassen, dass eine so hübsche Dame wie Sie abgewiesen wird«, erwiderte er und grinste sie an.
Lily wäre fast in Ohnmacht gefallen, aber irgendetwas an Wolfes Grinsen gefiel Michele nicht.
»Widerlicher Kerl«, flüsterte sie Lily zu.
Nachdem das Fletcher Henderson Orchester noch ein paar weitere Songs gespielt hatte, kündigte der Conférencier den Beginn des Gesangswettbewerbs an. Michele und Lily beobachteten aufmerksam, wie alle möglichen Sänger die Bühne betraten und alles, von Gospelsongs bis zu den neuesten Broadwayhits, darboten. Eine schöne Frau mit rauer Stimme, die Michele an Billie Holiday erinnerte, sang eine gefühlvolle Ballade, die das Publikum zu Tränen rührte, während ein junger Mann im Nadelstreifenanzug und Gamaschen die Gäste mit seinen akrobatischen Tanzschritten amüsierte.
Lily sollte als Vorletzte singen und Michele sah, wie sie kurz zögerte, als sie die Bühne betrat. Doch sie fing sich schnell und sang und tanzte sich die Seele aus dem Leib, als sie Gershwins »Fascinatin’ Rhythm« darbot.
Michele staunte. Sie hatte immer gewusst, dass Lily eine unglaubliche Stimme besaß, doch es war einfach umwerfend, wie eine Sechzehnjährige einen Song mit der volltönenden Stimme einer Ella Fitzgerald zum Besten gab und beim Scat die ganz hohen Töne traf, während sie gleichzeitig wie Ginger Rogers tanzte. Sie hatte wirklich das Zeug zum Star.
Als der letzte Ton ausklang, sprangen die Zuschauer auf und jubelten. Lily kehrte in ihre Nische zurück, das Gesicht vor Aufregung gerötet.
»Wow«, rief Michele. »Du hast dich selbst übertroffen! Glückwunsch!«
Lily grinste Michele an und wandte sich dann Thomas zu, der sie mit Komplimenten überschüttete. »Großartig, einfach großartig! Wie schaffst du es nur, wie ein Engel zu singen und gleichzeitig so zu tanzen?«
Lily kicherte. »Ach, wissen Sie, alles eine Frage der Übung.«
Nach einem letzten Song, der von einer durchschnittlichen Sängerin vorgetragen wurde, die das Pech hatte, nach Lily an der Reihe zu sein, verkündete der Conférencier, dass sich die Preisrichter nun berieten und er das Ergebnis innerhalb einer Stunde verkünden würde. Lily war ein Nervenbündel, während das Orchester sein Bestes tat, das Publikum zu unterhalten.
Schließlich kehrte der Conférencier auf die Bühne zurück. Im Saal herrschte gespannte Stille.
»Und die Gewinnerin des wöchentlichen Gesangswettbewerbs im Cotton Club ist … Contessa Craw-ford!«
Das Publikum brüllte vor Begeisterung, und Lily sprang aufgeregt hoch. Ehe sie sich’s versah, war sie umringt von neuen Fans, den Preisrichtern und Mitgliedern des Fletcher Henderson Orchesters. Staunend beobachtete Michele, wie Lily Louis Armstrong die Hand schüttelte. Das ist meine Urgroßmutter!
Lily eilte zum Tisch zurück, und ihre Augen blitzten. »Wir müssen gehen, die drei Stunden sind längst vorbei! Unser Taxi wartet.«
Als sie im Taxi saßen, fragte Michele: »Glaubst du, deine Eltern lassen dich auftreten? Der Cotton Club ist ja schließlich eine illegale Kaschemme.«
»Natürlich nicht.« Lily lachte. »Eine junge Erbin, die in Harlem Jazz singt? Das ist in der Gesellschaftsschicht, der meine Eltern angehören, undenkbar. Aber sie brauchen es ja nicht zu wissen. Tagsüber werde ich das brave Windsor-Töchterchen der feinen Gesellschaft sein und bei Nacht der Jazzvamp Contessa Crawford.«
Lachend schüttelte Michele den Kopf. Es erschien
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