Timeless: Roman (German Edition)
die erste Gouverneurin gewählt worden. Mr. Windsor äußerte sich besorgt über Benito Mussolini, Italiens neuen Diktator, und Michele erschauderte bei dem Namen – schließlich war er einer der Schurken der Achsenmächte, die den Zweiten Weltkrieg heraufbeschworen hatten.
Inzwischen drehte sich das Gespräch um Literatur. Mr. Windsor erwähnte, dass sich Fitzgeralds neues Werk Der große Gatsby nicht so gut verkaufte wie die vorherigen Bücher. »Sagt, habt ihr es gelesen, ihr zwei?«
»Ich habe es regelrecht verabscheut«, erwiderte Mrs. Windsor, gerade als Lily voller Begeisterung ausrief: »Es ist einfach großartig!« Lily lachte, aber Mrs. Windsor warf ihr einen verärgerten Blick zu.
»Liebes, ich kann wirklich nicht verstehen, wie dir ein kitschiger Roman wie dieser gefallen kann, in dem sich alberne Mädchen mit Jungenfrisuren über die Gesellschaft lustig machen. Ich hoffe doch, dass du dich nicht derartig beträgst, wenn wir nicht dabei sind.«
»Nein, Mutter, natürlich nicht«, antwortete Lily in einem mürrischen Ton, der ahnen ließ, dass es bereits viele Gespräche dieser Art gegeben hatte.
»Genau das will ich hören … nämlich, dass meine Tochter eine anständige junge Dame ist. Übrigens wollen die Vanderbilts und Whitneys nächsten Monat zu einem Künstlerabend einladen und haben dich gebeten zu singen. Dein Vater und ich haben dabei an die Arie der Madame Butterfly gedacht.«
Lily zog eine Grimasse. »Nein, Mutter, ich singe keine Opernarien, und du weißt das. Bitte, lass mich singen, was ich gut kann …«
»Diese Songs aus Harlem?«, fiel Mr. Windsor ihr ins Wort. »Auf keinen Fall, Lily. Du weißt genau, dass das höchst unpassend wäre.«
»Es ist doch nur Jazz, das ist doch nicht schlimm«, konterte Lily. »Überlegt mal, das wäre die beste Gelegenheit für eure Gesellschaft, zu erkennen, wie talentiert ich bin …«
»Kommt überhaupt nicht infrage«, erwiderte Mrs. Windsor entschieden. »Du singst entweder eine Arie oder gar nichts. Und jetzt lasst uns über etwas anderes sprechen.«
Lily warf Michele einen verzweifelten Blick zu.
Was ist nur mit diesen Leuten los? , überlegte Michele. Erst wurde Philip die Musik verboten, die er mochte, und jetzt Lily.
Nach dem Frühstück gab Michele Lily ein Zeichen, ihr nach draußen zu folgen. Als sie auf der Vordertreppe standen, außer Hörweite von Lilys Eltern und Bediensteten, sagte Michele: »Ich muss jetzt wirklich gehen, komme aber bald zurück.«
»Versprochen?« Lily wirkte plötzlich ängstlich. »Und vergiss nicht, du musst mir das Notenheft für die Lieder mitbringen.«
»Ich weiß. Ich bringe es nächstes Mal mit. Bis bald.« Michele umarmte Lily und wartete, bis sie im Haus verschwunden war, dann umfasste sie den Schlüssel an ihrer Kette. Zeit, ich bin bereit, dass du mich nach Hause zurückbringst.
Plötzlich sprang das Eingangstor auf, und ein älterer Herr betrat den Garten. Michele stockte der Atem.
Er trug einen Geschäftsanzug und stützte sich auf einen Stock mit Silbergriff. In der anderen Hand trug er eine Aktenmappe. Sein graues Haar war in der Mitte gescheitelt. Die dunklen Augen hinter seiner Nickelbrille kamen Michele seltsam bekannt vor – und dann dämmerte ihr, wer er war.
»Irving Henry«, hauchte sie. Er sah aus wie eine ältere Version des Fotos, das sie im Windsor-Album gesehen hatte.
Zu ihrem Erstaunen blickte er hoch. »Ja, mein Fräulein.«
Michele legte schnell die Hand vor den Mund. »O Gott«, flüsterte sie. »Sie können mich sehen?«
Irvings heller Teint schien sich noch heller zu färben. Er kam näher. Als er Michele betrachtete, verweilte sein Blick auf dem Schlüssel um ihren Hals. Er begann, von Kopf bis Fuß zu zittern, konnte sich kaum noch auf seinen Stock stützen.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?« Michele eilte auf ihn zu, um ihn zu stützen. Doch als sie nach seinem Arm griff, spürte sie, wie etwas sie zurückstieß, und der vertraute Wirbel der Zeitreise riss sie mit sich. Sie betrachtete Irving Henry, während sie sich von ihm entfernte, und sah, dass er sie anstarrte, den Mund vor Schreck geöffnet. Unbegreiflicherweise glitzerten in seinen Augen Tränen.
»Du hast also beschlossen, endlich nach Hause zu kommen?«
Michele blickte hoch, stellte fest, dass sie ins Jahr 2010 zurückgekehrt war und auf der Vordertreppe fast mit Annaleigh zusammengestoßen wäre.
»Oh«, erwiderte sie und hielt den Atem an. Sie war so in Gedanken an Irving Henry versunken gewesen,
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