Timeline: Eine Reise in die Mitte der Zeit
die Zuhörer einen enormen Druck aus. Denn sie mußten sich darüber Gedanken machen, was die anderen tun würden. Sie mußten sich darüber Gedanken machen, ob die anderen investieren würden oder nicht.
Doniger ging auf der Bühne auf und ab. »Heutzutage erwartet jeder, unterhalten zu werden, und zwar die ganze Zeit unterhalten zu werden. Geschäftliche Konferenzen müssen spritzig inszeniert sein, mit sofort verständlichen Diagrammen und animierten Grafiken, damit die Manager sich nicht langweilen. Einkaufszentren und Geschäfte müssen fesselnd sein, damit sie uns nicht nur etwas verkaufen, sondern uns auch amüsieren. Politiker müssen TV-Charisma besitzen und dürfen uns nur erzählen, was wir hören wollen. Schulen müssen darauf achten, daß sie die jungen Leute, die an das Tempo und die Vielfalt des Fernsehens gewöhnt sind, nicht langweilen. Studenten müssen unterhalten werden – alle müssen unterhalten werden, oder sie wechseln: Marken oder Programme, Partys oder Loyalitäten. Das ist die intellektuelle Realität der westlichen Gesellschaft am Ende unseres Jahrhunderts.
In anderen Jahrhunderten wollten die Menschen errettet oder geläutert, befreit oder erzogen werden. In unserem Jahrhundert wollen sie unterhalten werden. Die große Angst ist nicht die vor Krankheit oder Tod, sondern die vor Langeweile. Vor dem Gefühl, Zeit zur Verfügung, aber nichts zu tun zu haben. Vor dem Gefühl, sich nicht zu amüsieren.
Aber wohin führt diese Unterhaltungsmanie? Was tun die Leute, wenn sie genug haben vom Fernsehen? Wenn sie genug haben vom Kino? Wir kennen die Antwort bereits — sie stürzen sich in partizipatorische Aktivitäten: Sport, Themenparks, Erlebniszentren, Achterbahnen. Strukturierter Spaß, geplante Kicks. Aber was werden sie tun, wenn sie auch genug haben von Themenparks und geplanten Kicks? Früher oder später wird das Künstliche zu offensichtlich. Dann erkennen die Leute, daß ein Erlebniszentrum eigentlich eine Art Gefängnis ist, für das man Eintritt zahlen muß.
Diese Künstlichkeit wird sie dazu treiben, Authentizität zu suchen. Authentizität wird zum Schlagwort des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Und was ist authentisch? Alles, was nicht darauf ausgerichtet ist, Profit zu machen. Alles, was nicht von Konzernen kontrolliert wird. Alles, was aus sich selbst heraus existiert und seine eigene Gestalt annimmt. Aber natürlich gibt es in der modernen Welt nichts, was seine eigene Gestalt annehmen darf. Die moderne Welt ist das korporative Äquivalent eines französischen Gartens, in dem alles nur auf Wirkung hin arrangiert ist. Wo nichts unberührt bleibt, nichts authentisch ist.
Wohin werden die Leute sich dann wenden, wenn sie die seltene, aber erstrebenswerte Erfahrung des Authentischen machen wollen? Sie werden sich der Vergangenheit zuwenden.
Die Vergangenheit ist unbestreitbar authentisch. Die Vergangenheit ist eine Welt, die bereits vor Disney und Murdoch, Nissan und Sony, IBM und all den anderen Gestaltern unserer Gegenwart existierte. Die Vergangenheit gab es, bevor es sie gab. Die Vergangenheit entwickelte sich ohne ihre Einmischung, ihre Gestaltung und ihre Verkaufsstrategien. Die Vergangenheit ist echt. Sie ist authentisch. Und genau das macht die Vergangenheit unglaublich attraktiv. Das ist der Grund, warum ich sage, daß die Zukunft die Vergangenheit ist. Die Vergangenheit ist die einzige wirkliche Alternative zu — Ja? Diane, was ist denn?« Er drehte sich zur Tür um, als sie den Raum betrat.
»Es gibt ein Problem im Transitraum. Wie es aussieht, hat die Explosion die noch verbliebenen Wasserschilde beschädigt. Gordon hat eine Computersimulation laufen lassen, die zeigt, daß vier Schilde brechen, wenn man sie mit Wasser füllt.«
»Diane, was ist denn das für eine hirnrissige Aussage«, sagte Doniger und zupfte an seiner Krawatte. »Soll das heißen, daß sie möglicherweise ohne Abschirmung zurückkommen?«
»Ja.«
»Nun, das können wir nicht riskieren.«
»Es ist nicht ganz so einfach…«
»Doch, das ist es«, erwiderte er. »Wir können es nicht riskieren. Mir ist es lieber, wenn sie gar nicht zurückkommen als mit schweren Schädigungen.«
»Aber –«
»Was aber? Warum macht Gordon bei dem Ergebnis seiner Simulation trotzdem weiter?«
»Weil er der Simulation nicht traut. Er sagt, sie ist grob und schlampig, und er glaubt, daß der Transit gut über die Bühne geht.«
»Wir können es nicht riskieren«, sagte Doniger mit einem Kopfschütteln.
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