Timeline: Eine Reise in die Mitte der Zeit
Stützkonstruktion, auf der sie hätte entlanglaufen können. Aber hier zeigte sich der französische Stil. Der Querbalken lag direkt auf der Mauer auf, in einer Kerbe einen guten Meter unterhalb des Dachrands. Es gab keine an der Wand befestigten Bauteile. Jetzt fiel ihr ein, daß sie in den Ruinen von La Roque gestanden und diese Kerben gesehen hatte. Wo hatte sie nur ihre Gedanken?
Sie saß auf dem Balken fest.
Weiter konnte sie nicht gehen, weil der Balken an der Wand endete. Zurück in die Mitte konnte sie ebenfalls nicht, weil dort Guy auf sie wartete. Und der nächste Querbalken war so gut wie unerreichbar, weil er eineinhalb Meter entfernt war, sehr, sehr weit für einen Sprung.
Nicht unmöglich, aber sehr weit. Vor allem ohne Sicherheitsleine.
Als sie sich umdrehte, sah sie, daß Guy auf dem Querbalken auf sie zukam. Er balancierte vorsichtig, das Schwert in seiner Hand schwang leicht hin und her. Und er grinste grimmig. Er wußte, daß sie in der Falle saß.
Jetzt hatte sie keine andere Wahl mehr. Sie schaute zum nächsten Querbalken hinüber, eineinhalb Meter entfernt. Sie mußte es tun. Das Problem war, genug Höhe zu bekommen. Sie mußte hochspringen, wenn sie es zum nächsten Balken schaffen wollte.
Guy arbeitete sich gerade um die Sparrenkonstruktion herum. Er war nur noch Sekunden von ihr entfernt. Sie kauerte sich hin, holte einmal tief Luft, spannte die Muskeln an – und stieß sich mit den Füßen vom Balken ab. Ihr Körper flog durch die Luft.
Chris stieg aus der steinernen Falltür. Er schaute durchs Feuer und sah, daß jeder im Saal zur Decke hochschaute. Er wußte, daß Kate dort oben war, aber er konnte nichts für sie tun. Schnell ging er zu der Tür in der Stirnseite und versuchte, sie zu öffnen. Als sie sich nicht rührte, stemmte er sein ganzes Gewicht dagegen, und sie bewegte sich ein paar Zentimeter. Er drückte noch einmal, die Tür knarzte und schwang auf.
Er trat hinaus in den inneren Burghof von La Roque. Soldaten liefen wild durcheinander. In einem der Wehrgänge, den hölzernen Galerien, die oben an der Mauerkrone entlangliefen, war ein Feuer ausgebrochen. Und in der Mitte des Hofs brannte etwas wie ein Scheiterhaufen. In dem ganzen Chaos achtete niemand auf ihn.
Er sagte: »André. Bist du da?«
Statisches Rauschen. Sonst nichts.
Er probierte es noch einmal. »André? Hallo?«
Wieder nichts.
Doch dann: »Ja.« Es war Andrés Stimme.
»André? Wo bist du?«
»Beim Professor.«
»Wo?« fragte Chris.
»In der Munitionskammer.«
»Wo ist die?«
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00:59:20
In dem Lagerraum befanden sich zwei Dutzend Käfige mit Tieren, vorwiegend Katzen, aber auch einige Mäuse und Meerschweinchen. Es roch nach Fell und Fäkalien. Gordon führte Stern einen Zwischengang hinunter und sagte: »Wir halten die Gespaltenen von den anderen isoliert. Das muß sein.«
An der hinteren Wand sah Stern drei Käfige. Die Stangen dieser Käfige waren ziemlich dick. Gordon führte ihn zu einem, in dem er nur ein kleines, zusammengerolltes Fellknäuel sah. Es war eine schlafende Katze, eine silbergraue Perserkatze.
»Das ist Wellsey«, sagte Gordon mit einem Nicken.
Die Katze wirkte völlig normal. Sie atmete im Schlaf langsam und sanft. Nur eine Gesichtshälfte war in dem Fellknäuel zu sehen. Die Pfoten waren dunkel. Stern wollte näher herangehen, aber Gordon legte ihm die Hand auf die Brust. »Nicht zu nahe«, sagte er.
Gordon nahm sich einen Stecken und fuhr damit an den Käfigstangen entlang.
Das sichtbare Auge öffnete sich. Nicht langsam und träge — es sprang förmlich auf und schien sofort hellwach. Die Katze rührte sich nicht, streckte sich nicht. Nur das Auge bewegte sich.
Gordon fuhr mit dem Stock ein zweites Mal über die Stangen.
Mit einem wütenden Fauchen warf sich die Katze gegen die Stangen, das Maul weit aufgerissen, die Zähne gefletscht. Sie krachte gegen die Stangen, sprang zurück und griff wieder an — und immer und immer wieder, erbarmungslos, ohne Pause, knurrend und fauchend.
Stern starrte entsetzt in den Käfig.
Das Gesicht des Tiers war gräßlich entstellt. Eine Seite wirkte normal. Doch die andere hing deutlich tiefer, das Auge, das Nasenloch, alles war tiefer, so daß quer durch die Mitte eine Linie verlief, die die beiden Seiten trennte. Deshalb nennen sie sie »gespalten«, dachte er.
Aber schlimmer noch war das, was sich hinter der tieferen Gesichtshälfte befand und was Stern bei dem hektisch auf und ab springenden Tier zunächst
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