Timeline: Eine Reise in die Mitte der Zeit
sammeln und zu überlegen, was sie tun sollte.
Was konnte sie tun?
Sie stand auf dem Mittelbalken und hielt sich an einer dicken vertikalen Strebe fest, die etwa den doppelten Umfang eines Telefonmastes hatte. Auf halber Höhe der Strebe ragten auf beiden Seiten Sparren schräg zum Dach. Diese Sparren waren so niedrig, daß Sir Guy sich, wenn er zu ihr auf die andere Seite des Mittelbalkens wollte, geduckt unter ihnen hindurchhangeln mußte.
Kate bückte sich, um auszuprobieren, wie es sich anfühlte, unter den Sparren hindurchzuklettern. Es war schwierig, und Guy würde eine ganze Weile brauchen. Als sie sich wieder aufrichtete, streifte ihre Hand den Dolch. Den hatte sie völlig vergessen. Sie zog ihn aus der Scheide und richtete die Spitze nach vorn.
Guy sah es und lachte. Und die Zuschauer unten am Boden fielen in sein Lachen mit ein. Guy rief ihnen etwas zu, und sie lachten noch lauter.
Kate sah, wie er näher kam, und wich ein Stück zurück. Sie ließ ihm Platz, damit er sich unter den Sparren hindurchhangeln konnte. Um ihn zu täuschen, versuchte sie verängstigt auszusehen — was nicht schwierig war — und kauerte sich hin. Der Dolch in ihrer Hand zitterte.
Alles eine Frage des Timings, dachte sie.
Sir Guy blieb auf der anderen Seite der Strebe kurz stehen und sah ihr zu. Dann duckte er sich und begann, unter den Sparren hindurchzukriechen. Seinen rechten Arm hatte er um die Strebe geschlungen, so daß die Hand sein Schwert an das Holz preßte.
Kate sprintete los, stach mit dem Dolch nach seiner Hand und nagelte sie an die Strebe. Dann schwang sie sich um den Sparren herum und kickte seine Füße vom Mittelbalken. Guy baumelte in der Luft, nur gehalten von seiner an die Strebe genagelten Hand. Er biß die Zähne zusammen, gab aber keinen Ton von sich. O Gott, waren diese Kerle zäh!
Ohne das Schwert loszulassen, versuchte er, die Füße wieder auf den Balken zu bekommen. Doch sie hatte sich schon wieder zurückgeschwungen und stand nun erneut auf ihrer Seite des Balkens. Ihre Blicke trafen sich.
Er wußte, was sie vorhatte.
»Verfaule in der Hölle«, sagte er.
»Du zuerst«, entgegnete sie.
Sie zog den Dolch aus dem Holz. Guy fiel stumm in die Tiefe, sein Körper wurde immer kleiner. Auf halber Höhe traf er eine Fahnenstange, die gußeiserne Stange bohrte sich in seinen Körper, und einen Augenblick lang hing er in der Luft. Doch dann brach die Stange, und er krachte auf den Tisch. Geschirr flog, die Gäste sprangen zurück. Guy lag inmitten von Scherben und rührte sich nicht mehr.
Oliver zeigte zu Kate hoch und schrie: »Tötet ihn! Tötet ihn!« Der Schrei wurde von anderen im Saal aufgenommen. Bogenschützen rannten davon, um ihre Waffen zu holen.
Oliver wollte nicht warten. Wütend stürmte er, gefolgt von einigen Soldaten, aus dem Saal.
Kate hörte die Stimmen von Hofdamen, Kindern und vielen andern, die sich alle zu einem Sprechchor vereinigten: »Tötet ihn!«, und sie rannte den Mittelbalken entlang zur gegenüberliegenden Stirnseite des Saals. Pfeile zischten an ihr vorbei und gruben sich ins Holz. Aber sie kamen zu spät; Kate sah, daß sich an dieser Seite ebenfalls eine Tür befand, sie warf sich dagegen, wuchtete sie auf und stolperte in die Dunkelheit.
Es war ein sehr enger Raum. Sie stieß sich den Kopf am Dach an und erkannte plötzlich, daß sie sich am Nordende der großen Halle befand, das nicht an die Burgmauer anschloß, sondern freistehend war. Deshalb…
Sie stemmte sich gegen das Dach, und ein Teil löste sich. Im nächsten Moment kletterte sie aufs Dach und von dort mühelos auf die Krone der inneren Burgmauer.
Jetzt sah sie, daß die Belagerung bereits in vollem Gange war. Garben brennender Pfeile zischten in flachen Bögen über ihren Kopf und landeten im Innenhof. Bogenschützen an der Brustwehr erwiderten das Feuer. Auf der Mauerkrone wurden Kanonen mit Metallpfeilen geladen, und de Kere marschierte auf und ab und bellte Befehle. Er bemerkte sie nicht.
Sie wandte sich ab, tippte sich ans Ohr und sagte: »Chris?«
De Kere wirbelte, die Hand ans Ohr gelegt, herum. Hektisch schaute er sich um, suchte die Mauerkrone ab, starrte hinunter in den Hof.
Es war de Kere, der den Ohrstöpsel hatte.
Und dann sah de Kere sie. Er erkannte sie sofort.
Kate rannte los.
Chris fragte: »Kate? Ich bin hier unten.« Brennende Pfeile regneten in den Hof. Er winkte zu ihr hoch, aber er war sich nicht sicher, ob sie ihn von der Mauer aus hier unten in der Dunkelheit
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