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Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Winterfeld
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hatte aber einen Haken, weil sie auf dem Gendarmerieamt auf dem Geißmarkt nur die eine kleine Zelle haben. Da wärt ihr nicht alle reingegangen. Schuldirektor Beese wollte euch vierundzwanzig Stunden nachsitzen lassen. In dieser Zeit solltet ihr tausend Mal schreiben: ›Wir Kinder von Timpetill bestätigen hiermit, dass wir hartgesottene Spitzbuben sind!‹«
    »Echt Federwischer«, bemerkte ich.
    »Die Eltern konnten sich aber um keinen Preis einigen. Die einen wollten das, die andern dies. Es war die reine Schwatzbude. Ich bin ein einfacher Mann und mischte mich nicht ein. Der Festsaal im Rathaus war gesteckt voll. Bürgermeister Krog hatte sämtliche Erwachsenen zusammenrufen lassen. Sogar die Gesellen und Lehrlinge mussten erscheinen, wo die doch gar nichts zu sagen hatten! Na, die Herrschaften mussten ja besser wissen, was sie wollten! Fleischermeister Stettner bot an, euch alle über’s Knie zu legen. Dabei fuchtelte er mit seinen riesigen Fäusten herum, dass einem angst und bange wurde. Das passte den Eltern gar nicht. Dein Alter und Schuhmachermeister Wank waren ganz entrüstet über Stettner. Na, kurz und gut, plötzlich setzte Amtsrichter Dröhne seinen Hut auf und erhob sich. Sofort standen alle Leute auf, als ob er einen Urteilsspruch verkündete. ›Schwergeprüfte Eltern von Timpetill‹, sagte der Amtsrichter. ›Auch wenn ich nur ein tugendhaftes kleines Mädchen zum Kinde habe, bin ich ungeachtet dessen gründlich mit mir zu Rate gegangen.‹ So ähnlich redete der Amtsrichter. ›Zweifelsohne überliefert uns die Geschichte der Jugendkriminalistik den schlüssigen Beweis, dass man Kinder nicht durch Prügel zu erziehen vermag.

    Mein Grundsatz, den ich von jeher in meiner richterlichen Tätigkeit, wie auch in meinem bescheidenen häuslichen Leben hochhalte, lautet: Nicht strafen, sondern bessern! Nicht verdammen, sondern verstehen! Nicht verzweifeln, sondern vorbeugen!‹ Hier räusperten sich einige Leute. Der Amtsrichter hatte wohl den Faden verloren. ›Wie dem auch sei‹, redete er weiter. ›Wenn ich auch sonst immer rücksichtslos für die ganze Strenge des Gesetzes eintrete, dürfen wir in diesem besonderen Falle uns dem Umstande nicht verschließen, gewisse Milderungsgründe in Erwägung zu ziehen. Diese und jene Eltern, ich will mich im Augenblick nicht auf eine spezielle Untersuchung einlassen, haben durch ihr fahrlässiges Verhalten erst die Grundlagen geschaffen, durch die unsere Kinder straffällig geworden sind. Noch haben wir Zeit, unsere Jugend auf den rechten Weg heranwachsender Staatsbürger zurückzuführen. Geben wir ihnen die Erkenntnis in die Hand, dass Eltern nicht nur Zielscheibe ihres Spottes sind. Öffnen wir ihnen durch eine bittere Erfahrung die Augen, auf dass sie den Sinn und die Bedeutung ihrer Eltern begreifen mögen. Darum schlage ich vor: Verlassen wir einen Tag die Stadt! Sollen die Kinder sehen, wie sie selbst klarkommen! Wenn sie vierundzwanzig Stunden nichts zu essen und nichts zu trinken bekommen, wenn sie kein Licht und kein Wasser haben, dann werden sie rasch zur Einsicht gelangen, dass Eltern nicht nur ein lästiges Übel sind, sondern noch eine kleine Nebenbeschäftigung haben, zum Wohle ihrer eigenen Kinder und der Allgemeinheit im Besonderen!‹ Donnerwetter! Das war mal eine Rede gewesen! Die wurde auch mit Begeisterung aufgenommen. Die Eltern gerieten förmlich aus dem Häuschen. Amtsrichter Dröhne wurde umringt und beglückwünscht. Bürgermeister Krog strich ergriffen seinen weißen Bart, schlug mit der Faust auf das Rednerpult und sagte: ›So ist es!‹ Sogleich wurde einstimmig beschlossen, Timpetill am nächsten Morgen in aller Frühe heimlich zu verlassen und erst spät in der Nacht zurückzukehren. Nicht ein einziger Erwachsener sollte in der Stadt bleiben. Wir wollten euch solche Angst einjagen, dass ihr ein für alle Mal zu Kreuze kriechen würdet. Um euch aber ganz windelweich zu kriegen, solltet ihr glauben, dass wir nie wiederkämen. Herr Direktor Beese entwarf sofort den Aufruf an euch, den Herr Kauer noch in der Nacht drucken ließ. Am frühen Morgen, beim ersten Hahnenschrei, ließen wir an allen Geschäften die Rollläden herunter, schlossen die städtischen Betriebe, versteckten aus Sicherheitsgründen sämtliche Streichhölzer und Kerzen und trafen uns, kurz vor Sonnenaufgang, im Stadtpark. Sogar Stationsvorsteher Werner war gekommen. Er meinte, dass der Zug auch einmal ohne ihn abfahren könnte. Die Mütter, die Babys hatten,

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