Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
alte Stadttor am Ende der Pfarrgasse. Eine kleine Wendeltreppe führt zu einer Aussichtswarte unter dem Dach. Von dort oben kann man den ganzen Geißmarkt und die angrenzenden Gassen und Gässchen überblicken.
»Gute Idee!«, sagte Thomas.
»Wartet noch!«, rief ich. »Ich hole rasch mein Fernrohr.«
Ich sauste um die Ecke, durch den Hintereingang in unser Haus und die Treppe hinauf. Eine Minute später war ich mit dem Fernrohr wieder unten bei Thomas und Heinz.
»Los!«, kommandierte Thomas.
Wir rannten durch die Pfarrgasse zum Stadttor. Unterwegs stießen wir auf Marianne.
6
Ein Loch im Backenzahn
Marianne kam gerade aus ihrem Hause gelaufen. »Hoppla!«, rief sie, »wo wollt ihr denn hin?«
Marianne ist die Tochter des Zahntechnikers Loose. Sie ist elf Jahre alt, blond und sehr nett. Sie hat eine Stupsnase und kugelrunde blaue Augen. Sie ist sehr klug und will Ärztin werden. Nächstes Jahr soll sie aufs Gymnasium nach Kollersheim. Marianne und ich sind gute Bekannte. Ihr Vater ist der beste Freund meines Alten. Die beiden gehören zu einem Stammtisch im »Goldenen Posthorn«. Manchmal muss ich dorthin und meinem Vater eine Bestellung ausrichten. Um den Tisch sitzen viele Herren. Sie trinken Bier, rauchen dicke Zigarren oder Pfeifen und spielen Karten. Magister Drops, Assessor Punkt und Postdirektor Wittner sind auch dabei. Die Herren stellen dann immer Fragen an mich: Wie alt ich bin; was ich werden möchte; ob ich versetzt werde und ähnlichen Unsinn. Marianne schimpft auch auf den Stammtisch: »So ein Affentheater«, sagt sie. »Immer, wenn jemand Zahnschmerzen hat, muss ich meinen Vater aus dem ›Goldenen Posthorn‹ holen.« Sie ist wirklich lustig; wenn sie sich ärgert, rümpft sie die Nase und macht Kulleraugen. Ich lache darüber, und sie wird noch zorniger. »Trampel!«, faucht sie mich an, lacht aber dann auch. Wenn unsere Eltern einander besuchen und über alles Mögliche tratschen, setzen wir uns in eine Ecke und unterhalten uns vernünftig. Wir sprechen gewöhnlich über unsere Zukunftspläne. Aber oft verulke ich sie.
»Du willst also später den Leuten den Bauch aufschneiden?«, frage ich grinsend.
»Schafskopf!«, erwidert sie verächtlich. »Ich will mich doch auf die Nerven spezialisieren.«
»Aha«, sage ich, »du willst die Verrückten mit kaltem Wasser begießen!«
»Ja, dich«, antwortet sie schlagfertig.
Sie kann auch sehr energisch werden, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat.
Als wir sie vor ihrem Hause trafen, begrüßten Heinz und ich sie erfreut. Sie kannte Thomas nur vom Sehen. Trotz unserer Eile stellte ich die beiden rasch einander vor: »Marianne, das ist mein Freund Thomas Wank!«
»So«, sagte sie, »das ist also der merkwürdige Knabe, von dem du mir Wunderdinge erzählt hast?« Sie musterte ihn neugierig.
Thomas errötete. In Mädchengesellschaft ist er etwas unbeholfen. »Geheimrat übertreibt mächtig«, sagte er und lächelte schwach.
»Du siehst ganz normal aus«, meinte Marianne und lachte ihn mit ihren blitzsauberen Zähnen freundlich an. Der Bann war gebrochen. Ich war froh, dass Thomas ihr gefiel. Sonst hätte ich mich bestimmt mit ihr gezankt.
»Warum habt ihr es so eilig?«, fragte sie.
Aus der Ferne hörte man ununterbrochen das Lärmen der Kinder.
»Ja, kommst du denn aus der Mottenkiste?«, rief ich überrascht. »Weißt du denn nicht, was los ist?«
»Bei dir ist wohl eine Schraube los!«, erwiderte Marianne gekränkt.
»Die Schule ist geschlossen. Unsere Eltern sind fort!«, sagte Heinz aufgeregt.
»Gestern war doch ein Riesentumult auf dem Geißmarkt«, fügte Thomas hinzu.
»Schnickschnack, ihr spinnt doch«, rief Marianne. »Heute ist sicher Feiertag, und die Eltern schlafen noch, sage ich euch.«
»Zum Kuckuck noch mal! Heute ist kein Feiertag, und die Eltern sind davongeflogen«, sagte ich heftig. Ich erzählte ihr rasch, was inzwischen alles passiert war.
Jetzt war Marianne aber doch erstaunt. »Das ist allerhand!«, rief sie aus. »Wenn meine Eltern nach Hause kommen, können sie was erleben!«
»Wir wollen in den Turm«, sagte Heinz.
»Ich komme mit«, erklärte Marianne kurz und bündig.
»Wirklich?«, fragte Thomas erfreut.
»Ehrensache«, erwiderte sie. »Oder glaubt ihr, ich will auch Schokolade stibitzen?« Dann rannte sie uns voraus.
Am Stadttor schlüpften wir ungesehen in den kleinen Eingang, der zur Wendeltreppe führt, und flitzten die eisernen Stufen hinauf.
Die Plattform der Aussichtswarte ist von
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