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Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Winterfeld
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einer halbhohen Steinbrüstung umgeben. Das spitze Dach ruht auf vier mächtigen Pfeilern. Als wir oben ankamen, hörten wir ein höllisches Konzert. Wir eilten an die Steinbrüstung und blickten hinunter. Das war ein Anblick! In der Langengasse und auf dem Geißmarkt wimmelten die Kinder lärmend, wie ein wahnsinnig gewordenes Zwergenheer, durcheinander. Mit Trompeten, Ratschen und Trillerpfeifen erzeugten sie einen ohrenbetäubenden Lärm. Viele hatten Soldatenhelme oder Indianerfedern auf dem Kopf. Pistolen wurden abgeschossen, Pfeile schwirrten durch die Luft, Knallfrösche wurden abgebrannt. Es war ein Wahnsinn! Auf dem Geißmarkt wurde gerade ein Indianerzelt aufgestellt. Tomahawk schwingend, in voller Kriegsausrüstung, tanzte eine Horde von Jungen um den Brunnen. Er diente wohl als Marterpfahl; denn ich sah, dass Robert Punkt an einem Sockel festgebunden war. Anderswo wurde Fußball gespielt. Dort wieder Tennis. Sogar ein Ping-Pong-Tisch war mitten auf dem Fahrdamm aufgestellt. Zwischendurch flitzten funkelnagelneue Räder, fliegende Holländer, Roller, Kinderautos und Puppenwagen. Mädchen warfen einander Bälle zu. Kleine Jungen spielten mit Eisenbahnen. Und immer neue Scharen kamen mit neuen Spielsachen, begeistert schreiend, auf den Platz gelaufen. Es sah aus wie zur Fastnachtszeit.
    »Einfach toll!«, rief ich aus.
    Marianne war restlos empört. »Man müsste ihnen allen die Zähne ziehen«, schimpfte sie.
    Thomas starrte schweigend in die Langengasse. Heinz Himmel war ganz verstört, er schüttelte nur den Kopf.
    Aus Meiers Spielwarenhaus stürzte ein Trupp Jungen und Mädchen heraus, vollbepackt mit Puppen, Teddybären, Puppenstuben, Flugzeugen, Luftgewehren und Eisenbahnen. Vor Hases Fahrrad- und Nähmaschinengeschäft zappelte ein dichter Schwarm um Räder und Roller, die herausgereicht wurden. Oskar, Willi und Hannes schoben ein Motorrad vor sich her. Sie versuchten vergeblich, es in Gang zu setzen. Vielleicht hatten sie kein Benzin. Durch mein Fernrohr konnte ich hinter dem Schaufenster Pussi Tucher und andere Mädchen an den Nähmaschinen hantieren sehen. In Pütz’ Bonbonladen quetschten sich die Kinder wie die Heringe. Große Tüten und riesige Bonbonschachteln gingen von Hand zu Hand. Ich konnte ganz deutlich den dicken Paul Brandstetter beobachten. Er riss gerade strahlend einen Karton auf. Auch in die Konditorei waren sie eingedrungen und wüteten in der Auslage. In Diepenheuers Buchladen sah es ja schön aus! Seine beiden Söhne hausten wie die Wilden. Bücher flogen durch die Luft. Zeitschriften lagen auf dem Boden. Vor der Tür und auf den Treppenstufen saßen dichtgedrängt Kinder und blätterten in dicken Büchern. Mehrere Jungen trugen ganze Sammlungen unter dem Arm davon. Wahrscheinlich Karl May. Das war ein Rennen und Toben, ein Schreien und Jauchzen überall! Unsere Stadt machte den Eindruck, als ob sie von einer Räuberbande erobert worden wäre.
    »Freche Piratenbande!«, stieß Heinz Himmel hervor.

    Thomas sagte ernst: »Das haben die Eltern sich nicht träumen lassen.«
    »Aber die Kinder sind ja dumm«, meinte Marianne. »Wenn die Eltern heute Abend nach Hause kommen, gibt es doch ein schreckliches Strafgericht.«
    »Daran denken diese Idioten nicht«, brummte Thomas. »Sie tun, was Oskar will. Vorläufig gehört die Stadt ihnen. Was nachher kommt, ist ihnen egal.«
    »Wir müssten sie warnen«, sagte Marianne.
    »Zwecklos«, erwiderte ich.
    »Was können wir dagegen tun?«, fragte Heinz.
    Thomas zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Wir bleiben hier oben und kümmern uns um nichts. Das ist das Beste.«
    »Gib mir das Fernrohr!«, sagte Marianne zu mir. »Da unten raufen sich welche.« Ich gab es ihr, und sie blickte durch das Glas auf den Geißmarkt. »Röschen Traub weint«, rief sie. »Mehrere Mädchen haben ihr eine große Puppe weggenommen und hauen sich darum.«
    »Sie sollen sich nur gegenseitig das Fell versohlen«, sagte Thomas. Er drehte sich um und ging von der Steinbrüstung fort. Er setzte sich auf eine Bank, steckte die Hände in die Hosentaschen, lehnte sich an das Geländer und pfiff vor sich hin. Wir setzten uns zu ihm.
    »Einen Lärm machen die«, sagte Marianne.
    Plötzlich läuteten die Kirchenglocken. Ich sprang auf und starrte durchs Fernrohr. »Da brat mir doch einer einen Storch!«, rief ich. »Jetzt sind sie auch noch im Kirchturm oben und ziehen wie verrückt am Glockenstrang.«
    »Man müsste mit der Feuerspritze dazwischenfahren«, schimpfte

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