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Tinnef

Tinnef

Titel: Tinnef Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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Befehl war nun einmal Befehl. Bronstein seufzte und schritt weiter gegen den am Fluss besonders rauen Wind an.
    Der Georgier fühlte sich sichtlich in keiner Weise beobachtet. Er flanierte am Ufer entlang wie ein pensionierter Hofrat, ohne auch nur ein einziges Mal nach links oder rechts zu sehen. Ob dieses Verhaltens war es Bronstein möglich, sich ein wenig abzulenken, indem er einen sehnsuchtsvollen Blick auf die Schlossgärten warf, aus denen matter Lichtschein drang. Ob der Kaiser in Schönbrunn weilte?
    Beinahe wäre Bronstein gestolpert, doch im letzten Augenblick erfing er sich und starrte nervös nach vorn, ob er sich durch seine Tollpatschigkeit verraten hatte. Doch der Revolutionär aus dem Zarenreich war sichtlich in seiner eigenen Welt unterwegs und drehte sich nicht um. Es vergrößerte sich nur der Abstand zwischen den beiden Männern. Bronstein atmete durch, richtete sich den Mantel und ging weiter, immer die Wienzeile entlang.
    Nach einer knappen halben Stunde wurden in der Dunkelheit die Bögen der Stadtbahn sichtbar, die Bronstein signalisierten, dass sie nun bald wieder in den 12. Bezirk überwechseln würden. Die Gegend war übel beleumundet, und wie Bronstein nicht anders erwartet hatte, stießen er und sein unbewusster Weggefährte hier erstmals auf andere Menschen. Auf Frauen, um genau zu sein. Gleich unter der Stadtbahnbrücke befand sich ein Bordell, vor dem einige Venusdienerinnen nach Kundschaft Ausschau hielten. Bronstein war gespannt, ob sie den georgischen Finsterling ansprechen würden. Tatsächlich trat eine Nymphe aus dem Schutz des Eingangsportals hervor und hob zu sprechen an. Der Wind trug ihre Worte auch an Bronsteins Ohr.
    „Na, Masta, hamma …?“
    Die Prostituierte erstarb. Deutlich hatte Bronstein gesehen, dass der Georgier leicht den Kopf in die Richtung der Frau gedreht hatte, und unmittelbar danach war dieser das Reden vergangen. Bronstein malte sich aus, welchen Blick der Mann aufgesetzt haben musste, denn es brauchte einiges, um einer Wiener Dirne die Red zu verschlagen. Doch er kam nicht dazu, länger über dieser Frage zu brüten, denn kaum eine Minute später befand er sich auf der Höhe der Liebesdienerin. Verstohlen betrachtete er sie von der Seite und kam zu dem Schluss, dass sie ein bemerkenswert schönes Gesicht besaß. Doch das mochte nicht viel bedeuten, denn im Halbdunkel der fortschreitenden Nacht wirkte wohl bald jemand hübsch. Vielleicht sogar er.
    Er überlegte, wie er reagieren sollte, wenn die einschlägige Aufforderung an ihn gerichtet würde, doch zu seiner Überraschung blieb die Dame stumm. Entweder hatte Stalin sie nachhaltig verschreckt oder er, Bronstein, sah selbst für eine Evaspriesterin uninteressant aus. Wütend stapfte er weiter.
    Tatsächlich bog Stalin nun erneut rechts ab und kehrte wieder auf die andere Seite des Flusses zurück. Bronstein fror und fluchte undeutlich in seinen Mantel hinein. So hatte er sich das Leben des Polizisten wahrlich nicht vorgestellt. Statt glorreich auf Verbrecherjagd zu gehen, schlich er hinter einem obskuren Zwerg hinterher. Wenn er doch nur endlich einmal einen wirklichen Fall bekäme! Ein Mord, das wäre es! Möglichst aufregend, und er derjenige, der ihn löste! Dann könnte er seinen Namen in der Zeitung lesen, und seine Eltern wären stolz auf ihn. Er könnte sich gebührend feiern lassen, und selbst die Damen der Nacht würden dann sagen: „San Sie ned der Kommissar, der was …“
    Doch stattdessen würde er nur auf die Ablösung warten und dann einen weiteren Bericht verfassen, den vermutlich niemand las. Die einzige Gefahr, der er sich ausgesetzt sah, war die tödliche Langeweile, die mit dieser sinnlosen Aufgabe verbunden war. Und wenn er schon jemanden beschatten musste, warum konnte es dann nicht jemand von diesen Kaffeehausphilosophen sein, denn dann säße er wenigstens im Warmen, könnte sich an Speis und Trank gütlich tun und verbrächte seine Zeit jedenfalls in angenehmer Atmosphäre. Der Georgier und sein Schatten passierten das Längenfeld, und in wenigen Minuten würde das Haus in der Schlossstraße wieder erreicht sein. Bronstein holte mit klammen Fingern eine Zigarette aus seinem Etui. Er blieb für einen Augenblick stehen, öffnete den Mantel ein wenig, steckte seinen Kopf in den so entstandenen Windschutz und zündete die Zigarette an. Und noch zwei Stunden bis zur Ablösung.
    Keine hundert Meter vor dem Ziel der Wanderung erblickte Bronstein auf dem Gehsteig eine achtlos

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