Tinnef
Zusammentreffens mit Marie Caroline. Die smaragdgrünen Augen bekam er einfach nicht aus seinem Gedächtnis, ebenso wenig die blonden, leicht gelockten Haare. Sobald er seine Lider schloss, war ihr Gesicht so wirklichkeitsnah vor ihm, als läge sie auf ihm und betrachtete ihn. Er hatte das Gefühl, er bräuchte nur die Lippen zu schürzen, und schon könnte er sie küssen. Bronstein erhob sich und ging in seine Küche. Dort machte er Licht und zündete sich dann eine Zigarette an. Er hielt Nachschau, ob er noch ein wenig Milch zu Hause hatte, fand einen Rest, der noch brauchbar war, und schüttete diesen in einen Topf, den er sodann auf den Herd stellte. Er befeuerte denselben und wartete, während er rauchte, darauf, dass die Milch warm wurde. Das sollte ja angeblich dabei helfen, einzuschlafen.
Unwillkürlich ließ er an dieser Stelle sein bisheriges Liebesleben Revue passieren, das, wie er sich eingestehen musste, innert einer Zigarette erschöpfend abgehandelt war. Auf diesem Gebiet war er ein echter Spätzünder gewesen. Lange Zeit waren Latein und Altgriechisch seine Geliebten gewesen, und dass es so etwas wie Mädchen gab, das wusste er höchstens aus dem Naturkundeunterricht. Erst kurz vor der Matura war er das erste Mal in Liebe entflammt, als die kleine Gitti in die Nebenwohnung eingezogen war. Doch hatte die ein derartiges Selbstbewusstsein ausgestrahlt, dass er es nicht einmal gewagt hatte, sie im Stiegenhaus zu grüßen, geschweige denn das Wort zu einer Frage an sie zu richten. Nach der Bürgerschule hatte sie einen Beruf ergriffen, und wenig später war sie von zu Hause ausgezogen, sodass Bronstein nicht zu sagen vermochte, was aus ihr geworden war. Das galt auch für Veronika, die gleichfalls blonde Kellnerin aus dem Café bei der Technischen Hochschule am Karlsplatz. Bei ihr hatte er während seines Studiums immer wieder einmal eine Schale Kaffee bestellt und sich daran erfreut, wenn sie ihm beim Servieren des Gewünschten ein Lächeln schenkte. Doch ihm war damals schnell klar gewesen, dass Frauen wie sie keinen Gedanken an jemanden wie ihn verschwendeten. Er war eine Kundschaft, nicht mehr. Und so hatte er schließlich seine Unschuld standesgemäß verloren. In einem Puff. Eine kleine und korpulente Dunkelhaarige namens Sara, mit Mondgesicht und enervierend vielen ungustiösen Leberflecken. Den Namen hatte er nie vergessen, obwohl die ganze Angelegenheit eigentlich insgesamt zum Vergessen gewesen war. Die Hure verkörperte das genaue Gegenteil dessen, was er an einer Frau schön fand. Er begeisterte sich für groß und blond und besaß ohne Frage eine Vorliebe für weibliche Rundungen. Diese Sara war nichts davon gewesen, und trotzdem hatte er es kaum geschafft, in sie einzudringen, ehe es ihm auch schon gekommen war. Als er damals seinen Kronen auf dem Nachttisch Adieu sagte, fragte er sich, warum alle Welt der Kopulation eine solche Bedeutung beimaß. Wenn das alles war, dann hatte er ja wohl kaum sonderlich viel versäumt.
Die Jahre gingen dahin, seine Mutter lag ihm mehr und mehr in den Ohren, er solle sich endlich eine Frau suchen, damit er ihr Enkelkinder schenken konnte, doch da war weit und breit niemand zu finden, der ihn auch nur annähernd interessiert hätte. So schöne Frauen wie die Veronika und die Gitti, die waren ihm einfach nicht mehr untergekommen. Bis er über Marie Caroline gestolpert war. Das war endlich ein Geschenk des Schicksals. Das war einfach … Scheiße!
Fluchend warf Bronstein die Zigarette in den Aschenbecher und stürzte auf den Herd zu. Er hatte die Milch nur einen Moment aus den Augen gelassen, und schon hatte sie zu kochen begonnen und war übergegangen. Eilig zog er den Topf weg und versuchte dabei, den Schaden in Grenzen zu halten. Doch der penetrante Geruch verbreitete sich bereits in der gesamten Wohnung. Die erhoffte Wirkung würde nun sicher nicht mehr einsetzen, war Bronstein überzeugt. Immerhin, ein kleiner Rest schien noch brauchbar. Diesen goss er in eine Tasse, mit der er sich dann wieder an den Küchentisch begab. Er suchte nach einer weiteren Zigarette, fand schließlich eine und zündete sie an.
Das konnte aber eigentlich nicht die Wahrheit sein, oder? Fieberhaft überlegte Bronstein, ob seine Erlebnisse mit der holden Weiblichkeit wirklich auf einen derart erbärmlichen Nenner gebracht werden mussten. Er stand wenige Monate vor seinem 30. Geburtstag, da konnte es doch unmöglich sein, dass er über weniger Erfahrungen verfügte als ein Mönch.
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