Tinnef
Volksverhetzer eine Träne nachweinen würde, aber wie kommen unbescholtene Bürger dazu, einer solchen Gefahr ausgesetzt zu sein? Nicht auszudenken, wenn unser Kind etwa durch einen Querschläger oder eine fehlgehende Kugel verletzt worden wäre. Da fragt man sich schon, was unsere Polizei an dieser Stelle …“
„Papa, der Herr Oberleutnant ist von der Polizei“, sagte Marie Caroline fröhlich. Der Herr von Ritter zeigte zum zweiten Mal eine zweifelnde Miene. „Gar nicht bei der Armee?“, fragte er nach.
Bronstein schüttelte den Kopf. „Ich habe zuerst schon versucht, darauf hinzuweisen, dass ich eigentlich Oberkommissär bin. Und zur Sache selbst: Wissen Sie, Herr von Ritter, gegen so etwas ist selbst die allerbeste Polizei nicht gefeit. Man kann ja nicht jeden Bürger rund um die Uhr überwachen, nicht wahr.“
„Das bräuchte sie ja auch nicht. Es würde genügen, wenn die Unruhestifter in diesem Land unter Beobachtung stünden.“
„Glauben Sie mir, Herr von Richter“, lächelte Bronstein schmal, „das tun sie ohnehin. Aber man kann ja nicht wissen, was so einem Wahnsinnigen einfällt, der mit einer Waffe in der Hosentasche herumläuft. Erinnern Sie sich, wie im Oktober vorvorigen Jahres um ein Haar der heutige Ministerpräsident im Parlament erschossen worden wäre. Derartige Wahnsinnstaten sind leider nicht vorhersehbar.“ Ritters Gesichtsausdruck verriet, dass Bronsteins Argument ihn nachdenklich stimmte.
„Das ist ja so furchtbar!“, nutzte die Mutter die eingetretene Stille. „Du musst unendlich tapfer gewesen sein, mein Kind.“
„Na ja, aufregend war es schon, sonst wäre ich ja nicht umgefallen. Ich bin da einfach zum Ausgang gegangen, und auf einmal hat es ganz furchtbar gekracht. Ich habe geglaubt, da ist eine Bombe oder so explodiert. Das war so laut, dass ich mir gedacht habe, jetzt muss ich sterben. Mir ist schwarz geworden vor den Augen, und dann bin ich auch schon am Boden gelegen.“ Marie Caroline strahlte, als hätte sie eben einen Preis gewonnen. Es war ihr anzusehen, dass sie mit dieser Geschichte bei allen ihren Freundinnen für lange Zeit zu reüssieren gedachte. Die Ermordung einer stadtbekannten Persönlichkeit, und sie war hautnah dabei!
Bronstein trank sein Glas aus. Der Anstand gebot, sich nun zurückzuziehen, immerhin war es beinahe Mitternacht. Bliebe er länger, würde es anmaßend oder zumindest unhöflich wirken. Also stellte er geräuschvoll sein Glas ab und erhob sich. „Meine Damen, sehr geehrter Herr von Ritter, es war mir eine Ehre, Ihrem Haus diese kleine Gefälligkeit leisten zu dürfen. Dazu ist die Polizei schließlich da. Ich bedanke mich ganz herzlich für die dargebotene Gastfreundschaft und darf mich mit den allerbesten Wünschen für Sie alle empfehlen.“
Abermals hatte er die Hand der Mutter zu küssen, danach verabschiedete er sich standesgemäß vom Vater. Er wollte eben sagen, dass er schon allein hinausfinde, als Marie Caroline verkündete, sie geleite den Gast zur Tür. Das sei schließlich das Mindeste, was sie für ihren Retter tun könne. Noch ehe ihre Eltern Einspruch erheben konnten, hatte sie Bronstein an seiner Rechten gepackt und zog ihn zurück ins Vorzimmer. Dort öffnete sie die Tür und hielt ihm nun ihrerseits das Händchen hin.
„Was ist, Herr ohne von“, fragte sie leise, „wollen S’ mich wiedersehen?“ Bronstein blinzelte verlegen.
„Wer wollte eine schöne junge Dame, wie Sie es sind, nicht wiedersehen?“, entgegnete er gleichfalls flüsternd.
„Morgen um neun im Café Ritter. Das ist ja wohl nicht schwer zu merken, oder?“
Bronstein nickte. „Ich werde da sein. Ich freue mich darauf.“ Etwas lauter wünschten sie sich eine gute Nacht, und Marie Caroline dankte noch einmal für die geleistete Hilfe. Bronstein trat auf den Gang, und die Ritter schloss hinter ihm die Tür.
Na bitte, es gab doch noch Zeichen und Wunder, sagte sich Bronstein, während er selig lächelnd die Treppe nach unten ging. Da konnte man es getrost verschmerzen, kein Geigenspieler oder Hieroglyphenentzifferer zu sein. Selbst die Vorstellung, dass er am Morgen einen sinnlosen Bericht schreiben und erklären musste, warum er seinen Posten verlassen hatte, besaß nun nichts Schreckliches mehr. Der Himmel hatte sich aufgetan und einen Sonnenstrahl direkt auf ihn gelenkt. Und Bronstein wusste, er hatte sich verliebt.
Natürlich konnte er nicht einschlafen. Er war viel zu aufgekratzt. Immer und immer wieder erstanden ihm die Bilder des
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