Tinnef
kann sich einstweilen im Lesezimmer bilden, das ist fast so gut wie ein Museum, gelt!“
In der Tat ging es auf elf Uhr zu, und wenn man bis zu besagtem Hotel kaum länger als dreißig Minuten brauchte, so war es durchaus angezeigt, sich rechtzeitig dorthin zu verfügen, um noch einen Tisch zu bekommen, wiewohl sich Bronstein sicher war, dass die Jeunesse dorée dort ohnehin jederzeit willkommen war. Während sich die anderen nach ihrer Überbekleidung umsahen, linste Bronstein unauffällig in sein Portemonnaie und bekam eine Idee: „Meine Herrschaften, da ich von Ihnen so herzlich aufgenommen wurde, geht die Rechnung hier auf mich.“
„Vivat!“, rief Segur.
Und Bronstein hoffte inständig, im Restaurant würde diese Idee jemand anderer haben. Er stand auf und begab sich zum Zahlkellner. Der nannte ihm gelangweilt eine obszön hohe Summe. Was hatten die zu sich genommen, bevor er gekommen war? Weinbergschnecken und Château Lafite? Unsinn, dann hätten sie ja gleich zu Hause bleiben können, denn Letzterer gehörte ja den Segurs, wie sich Bronstein undeutlich erinnerte. Er seufzte und gab dem Ober die gewünschte Summe plus Trinkgeld. Na bitte, dachte er sich, jetzt besaß er noch eine Krone und 33 Heller. Damit würde er bei Meissl & Schadn im günstigsten Fall Feuer bekommen. Instinktiv räusperte er sich. Dann ging er zurück und holte seinen Borsalino, um schließlich gleich den anderen dem Ausgang zuzustreben.
Eisige Luft schlug ihnen entgegen, als sie auf die Straße traten, und Bronstein fürchtete bereits den kommenden Nachtdienst. Er musste sich unbedingt irgendwo eine Thermosflasche mit Tee organisieren, sonst würde er die Nacht nicht überstehen. Die Damen diskutierten, ob man eine Mietdroschke suchen sollte, doch Segur trat dafür ein, den Weg zu Fuß zu machen, da dadurch ein ansprechender Appetit gezüchtet werden würde. Nach einigem Zögern stimmten ihm die anderen zu. Vorbei an der Stifts- und der Barnabitenkirche, erreichten sie nach etwa zwanzig Minuten den Ring, auf dem hektische Betriebsamkeit herrschte. Autos hupten wie wild, um die Fuhrwerke beiseite zu drängen, Zeitungsjungen priesen lautstark ihre Ware an, und Fußgänger sahen hektisch um sich, um nicht von einem schnelleren Verkehrsteilnehmer niedergestoßen zu werden.
„Wie gehen wir jetzt am g’scheitesten?“, fragte die Harrach.
„Ich kenn eine Abkürzung“, gab Bronstein von sich. Er führte die Gruppe durch den Burggarten, hob an einer Nebenpforte des Burgkomplexes seine Kokarde und winkte damit die Gruppe durch. Sie passierten einige Gänge im Dienstbotentrakt und standen mit einem Mal auf dem Josefsplatz. „Jetzt noch vor zum Lobkowitz, und schon sind wir da“, erklärte er mit einem triumphierenden Lächeln.
„Na, das haben wir doch gut gemacht“, ätzte Rohan und trat auf ihn zu. Er schien ihm die Hand zu reichen, die Bronstein, überrascht von dieser neuerlichen Attacke, ergriff. Als ihn Rohan wieder losließ, spürte Bronstein einen Fremdkörper in seiner Hand. Er öffnete sie und sah ein Stück Papier, das sich bei näherer Betrachtung als ein Zweikronenschein entpuppte. Unwillkürlich musste er grinsen. Rohan hatte, freilich ohne es zu wissen, Bronsteins Barschaft mehr als verdoppelt.
Bronstein ließ seinen Blick auf dem Schein ruhen. Schon als kleinen Jungen hatte ihn, als die Kronenwährung vor über zwanzig Jahren eingeführt worden war, der Satz „Die Oesterreichisch-ungarische Bank zahlt gegen diese Banknote bei ihren Hauptanstalten in Wien und Budapest sofort auf Verlangen x Kronen in gesetzlichem Metallgelde“ ungemein fasziniert. Ebenso konnte er sich noch gut daran erinnern, wie er, kaum zehn Jahre alt, versucht hatte, die unterschiedlichen Sprachen zuzuordnen, in denen dieser Satz auf der Banknote abgedruckt war. Und jedes Mal, wenn er diesen Versuch unternahm, war es ihm ein neues Rätsel, das sich da vor ihm auftat. So auch jetzt: Tschechisch, Polnisch, Slowenisch, Ruthenisch. Dessen war er sich sicher. Aber was kam dann? Serbokroatisch? Die letzten beiden, auch da gab es keinen Zweifel, waren Italienisch und Rumänisch. Aber was war die achte Sprache? Wenn er nur in Staatsbürgerkunde besser aufgepasst hätte, dann wüsste er das jetzt. Aber seine Begleiter zu fragen kam auch nicht in Frage, denn dann wäre er tatsächlich der Blamierte, und Rohan hätte am Ende doch seinen Willen bekommen.
Bronstein wandte seinen Blick vom Geldschein ab und sah sich erstaunt um. Die Gruppe um Marie
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