Tinnef
Disziplinarkommission denken und war heilfroh, dass just in diesem Augenblick sein Schweinsbraten serviert wurde. Eilig griff er nach Messer und Gabel, und erst als die Hälfte der Portion in seinem Schlund verschwunden war, wandte er sich wieder der Zeitung zu. Der Artikel über das tragische Ende der Südpolexpedition Captain Scotts weckte sein Interesse. Dieser hatte, wie er sich vage erinnerte, den Wettlauf zum Pol gegen seinen norwegischen Kontrahenten Roald Amundsen verloren und war offenbar, wie die Zeitung wusste, auf dem Rückweg von seiner Niederlage mitsamt seiner Mannschaft erfroren. Illustriert war die Reportage mit Auszügen aus Scotts Tagebuch, die Bronstein unwillkürlich frösteln ließen. Aber das schien auch die richtige Einstimmung für die kommenden Stunden zu sein, die wohl alles andere denn warm und behaglich zu werden versprachen.
Er zahlte und verließ das Gasthaus, um im Anschluss die Hernalser Hauptstraße weiter mutig stadtauswärts zu schreiten. Nach einer kleinen Ewigkeit erreichte er endlich deren Ende, sodass er sein Wohnhaus allmählich in den Blick bekam. Bronstein kramte in seinen Taschen und förderte den Schlüssel zutage. Nach dem Öffnen des Haustors marschierte er die Stufen hinauf, um ein weiteres Mal ein Schloss zu entsperren. Seufzend begann er, den Ofen mit Holz zu füllen, um ein wenig Wärme in seine Behausung zu bringen. Während er darauf wartete, dass das Feuer im Herd seine Wirkung entfaltete, holte er aus der Kredenz eine Flasche Obstler hervor. Er stellte Tee zu und schüttete in das Aufgussgetränk schließlich ein nennenswertes Quantum der hochprozentigen Substanz. Mit dieser Kombination bewaffnet kroch er sodann ins Bett, wo er die Flüssigkeit in kleinen Schlucken zu sich nahm. Endlich wurde ihm innen und außen warm. Unter diesen Umständen würde er, leicht beduselt wie er war, leidlich gut schlafen, dachte er noch, ehe ihn Gott Hypnos umfing.
IV.
Donnerstag, 13. Februar 1913
Mit schwerem Kopf erwachte er. Die Uhr zeigte kurz nach sieben. Er hatte also genügend Zeit, um sich seinen Richtern in ansprechender Aufmachung zu stellen. Während er darauf wartete, dass die Kaffeemaschine ihren Dienst verrichtete, setzte er sich an seinen Küchentisch und zündete sich die erste Zigarette des Tages an. Als er diese, nachdem er den Rauch des ersten Zuges ausgeblasen hatte, wieder zum Mund führte, registrierte er, dass seine Hand zitterte. Fürchtete er wirklich eine Entlassung aus dem Polizeidienst?
Er versuchte sich zu beruhigen. Sie konnten ihm nicht wirklich etwas anhängen. Nichts, was ein Ende seiner Laufbahn bei der Exekutive rechtfertigen konnte. Viel wahrscheinlicher war eine Versetzung, und selbst die würde nur aus dem einen Grund erfolgen, dass sein Vorgesetzter mit ihm nicht mehr konnte und wollte. Natürlich bedeutete dies, dass er es sich nicht verbessern würde. Kommissariate wie Stammersdorf oder Essling waren mithin wirklich eine realistische Perspektive. Aber vielleicht war das gar nicht einmal so schlecht. Dort würde man nicht allzu viel zu tun haben, und so konnte man die Zeit vielleicht sinnvoller nutzen als bloß mit dem Sitzen in unbequemen Amtsstuben. Doch bevor er sich mit solchen Gedanken verrückt machte, sollte er sich besser auf andere Fragen konzentrieren, dachte er endlich, während er sich den frischen Kaffee in eine Tasse goss.
Wenn er schon über die Eigenmächtigkeit, in einem Fall zu ermitteln, der nicht der seine war, stolperte, dann war es nur würdig und recht, wenn er ihn bis zum letzten Augenblick weiterverfolgte, sagte er sich plötzlich. Er sollte sich diesen Zeno von Baumgarten vorknöpfen, denn der schien offenbar der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Affäre zu sein. Und Klarheit in die Sache zu bringen, das war er nicht nur sich selbst, sondern auch dem toten Mészáros schuldig. Der Mann war entschieden zu zielstrebig gewesen, um sich selbst ins Jenseits zu befördern, davon war Bronstein überzeugt, auch wenn sonst offenbar jeder von einem Selbstmord ausging.
Aber wo und wie sollte er Baumgarten finden? Er konnte unmöglich noch einmal zum Meldeamt gehen, denn dieses war ja eben Ursprung seines Verhängnisses gewesen. Bronstein blickte auf die Uhr. Es war wenige Minuten vor acht Uhr. Am besten, er fuhr zur Stiftskaserne. Mit etwas Glück war Baumgarten an diesem Tag diensthabender Offizier. Und wenn nicht, dann würde man dort erfragen können, wo man den Mann am besten antraf.
Entschlossen dämpfte Bronstein die
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