Tinnef
„Welche … Infamie!“
„Findest du nicht, dass du etwas übertreibst, Schatz?“
Sie ging nun ganz nah an Bronstein heran. „Das sage ich dir, wenn du dich heute mit diesem Kerl triffst, dann war’s das. Das kannst du schriftlich haben. Ich lasse mich von dir nicht länger zum Besten halten. Entweder du tust, was ein Galan zu tun hat, oder ich komme zu dem Schluss, dass meine Eltern, was dich betrifft, von Anfang an recht hatten.“
„Nun, anscheinend haben dann sehr viele Menschen recht. Denn ich komme allmählich zu dem Schluss, dass meine Freunde Recht hatten, was dich betrifft, meine Liebe.“
Marie Caroline blieb der Mund offen. „Und so jemandem habe ich … meine Unschuld … geopfert.“
„Das bezweifle ich. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest.“ Bronstein umkurvte Marie Caroline und öffnete die Tür.
„Du Wüstling!“, rief sie ihm nach. „Du Schandfleck deines Geschlechts! … Du … liederlicher Tunichtgut!“
Bronstein hörte nicht auf die Beschimpfungen und steckte im Vorübergehen den Kopf ins Esszimmer, wo er nur ein schnelles „Ich empfehle mich“ in den Raum schickte. Dann marschierte er schnurstracks zur Wohnungstür und entfernte sich eilig. Mit der Tür, so fand er, war auch dieses unselige Kapitel geschlossen. Er stand auf dem Treppenabsatz und atmete tief ein. Er war wieder frei. Beschwingt lief er die Stufen abwärts und fühlte sich an jenen Tag erinnert, da er seine Promotionsurkunde erhalten und der wenig geliebten Universität endlich Adieu gesagt hatte.
Doch dieses Hochgefühl hielt nicht lange an. Kaum stand er wieder auf der Straße, ergriff eine gewisse Melancholie von ihm Besitz. Da stand er nun, an einem Sonntag um 14 Uhr nachmittags, und hatte keinen einzigen Kreuzer in der Tasche, was jede Form von Ablenkung von vornherein ausschloss. Gerne wäre er in den Prater gefahren, um dort seine merkwürdige Stimmung im „Schweizerhaus“ hinunterzuspülen. Doch ohne Geld brauchte er sich nicht einmal nach Favoriten in den Böhmischen Prater zu begeben. Er konnte sich gerade einmal im Resselpark auf eine Bank setzen und den alten Damen dabei zusehen, wie sie die Tauben fütterten. Aber das würde ihn auch nicht gerade auf andere Gedanken bringen. Im Gegenteil. Da fiel ihm plötzlich die Lösung seines Problems ein. Die Wohnung seiner Eltern war keine fünfhundert Meter von hier entfernt. Und seit Anfang Mai hatte er die beiden nicht mehr besucht. Das war’s. Dort konnte er in aller Ruhe die Zeit bis zum Abend verbringen, und zudem würde ihm die Mutter sicher ein paar Kronen zustecken, damit er wieder liquid war und Kisch nicht um Geld anpumpen musste. Es würde Kaffee und Kuchen geben, er würde sich ein paar Klatschgeschichten anhören, kurz, er brauchte nicht länger an das eben Erlebte zu denken.
Mit neuem Elan machte er sich auf den Weg und stand keine zehn Minuten später vor dem elterlichen Wohnhaus. Er öffnete die Pforte und nahm die Treppe, die ihn in den ersten Stock führte. Dort klopfte er an die elterliche Tür. Im Inneren der Wohnung begann es zu rumoren, er hörte, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde, und gleich danach lugte das Gesicht seiner Mutter durch den Spalt, der sich aufgetan hatte.
„Jössas, der David!“, rief sie aus „Was machst denn du da?“
„Ah, darf man seine Eltern jetzt nicht mehr besuchen?“, fragte er keck zurück.
„Ja, das ist aber eine Freud’. Komm herein, komm nur herein.“ Dabei drehte die Mutter den Kopf nach hinten und rief: „Rat einmal, wer da ist! Der David!“ Wieder knarrten Bodenbretter, und schon tauchte auch der Vater im Vorzimmer auf. „Mein Sohn, welche Freude!“, sagte er.
Bronstein umarmte seine Mutter und küsste sie dezent auf die Wange, dann schüttelte er dem Vater die Hand. Die Mutter enteilte in der Zwischenzeit geschäftig in die Küche und ließ im Vorübergehen verlauten, sie werde sogleich Kaffee zustellen. „Und einen frischen Guglhupf hab ich auch.“ Na bitte, sagte sich Bronstein, sein Entschluss war goldrichtig gewesen. Er folgte dem Vater ins Wohnzimmer, wo er am Tisch Platz nahm. Der Vater stellte einen in Leder gebundenen Band zurück ins Bücherregal und holte dann seine Zigarrenkiste hervor. „Zur Feier des Tages“, erklärte er und hielt sie seinem Sohn hin. Dieser überlegte kurz, ob ihm der Herr von Ritter je eine angeboten hatte, und kam zu dem Resultat, dass dies niemals der Fall gewesen war. Ein weiterer Punkt, der gegen die Ritter sprach. Mit
Weitere Kostenlose Bücher