Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
Vom Netzwerk:
Gerippe eines jungen Hirschs in der Tenne des Landhauses der Familie Navagero. Ich hatte nie Zeit für meine Kinder. Ich vergaß ihre Geburtstage, vergaß sie zu belohnen, wenn sie gut in der Schule waren, und vergaß sie zu bestrafen, wenn sie etwas angestellt hatten. Ich wachte nicht bei ihnen, wenn sie krank waren, und machte keine Freudensprünge, wenn sie wieder gesund wurden. Meine geistige Abwesenheit war Ursache vieler Tränen, Enttäuschungen, Ernüchterungen und Tragödien. Aus diesem Grund erfanden Marietta und Faustina den Wunschkrug. Sie nahmen ein Einmachglas und schnitten ein Loch in den Stopfen. Einmal im Jahr durften die Kinder ihren größten Wunsch auf ein Blatt Papier schreiben und in den Krug stecken. Eine Sache, die sie gern haben wollten, einen Buchtitel, ein Spielzeug. Kurz vor den Heiligen Drei Königen traten Faustina und Marietta mit unschuldiger Miene an mich heran:«Dominico wünscht sich eine Abschrift des Rasenden Roland . Sie kostet sieben Lire, meinst du, du kannst sie auftreiben?»Ich wusste nichts von diesem Krug, meine Kinder aber bekamen am Dreikönigsfest immer ihren größten Wunsch erfüllt.
    Zuane steckte jahrelang immer denselben Wunsch hinein. Da er unerfüllbar war, konnten Marietta und Faustina ihn nie zufriedenstellen. Ich will mit Papa in den Zauberwald gehen und das Einhorn suchen. Ich will mit Papa Jagd auf das Einhorn machen. Ich will mit Papa das Einhorn einfangen. In den grauenvollen Monaten der Pest enthüllte mir Marietta das Geheimnis des Wunschkruges: Falls sie nicht genesen werde und nicht lebend aus dem Holzlager herauskomme, müsse ich von den Wünschen meiner Kinder wissen. Ich hielt diesen Wunschkrug für eine schädliche und verweichlichende weibliche Erziehungsmaßnahme, worauf
Marietta mir entgegnete, dass sie von mir persönlich gelernt hätten zu träumen und daran zu glauben, dass jenseits des Möglichen noch etwas anderes existierte.
    Faustina und ich lasen einen Zettel nach dem anderen. Wir schworen uns gegenseitig, dass wir irgendwie versuchen würden, die harmlosen Wünsche zu erfüllen, sollte einer von uns die Pest überleben. Dominico wollte Gedichtbücher, Marco einen Säbel, Perina, dass wir den armen Kindern im Viertel Puppen und Bonbons schenken, Lucrezia einen Stieglitz. Ottavio wollte dort, wo wir ihn drei Jahre zuvor verloren hatten, noch immer den Kompass der Seeschlacht . Zuanes Wunsch aber war und blieb ein Traum, für den wir nichts tun konnten.
    Mein drittgeborener Sohn war liebenswürdig, höflich und unbeschwert. Seine Bewegungen und Gesten hatten etwas Anmutiges und gleichsam Tänzerisches. Er war ein guter Schüler und verbrachte seit Kurzem seine Nachmittage in meinem Atelier: Mit Eifer widmete er sich dem Zeichnen und quittierte meine Tadel mit einem milden Lächeln.«Übermorgen wird Zuane zehn», erinnerte mich Faustina, als wir eines Abends im November im Bett lagen und sie die Kerze ausblies.«Setz dich mit ihm zusammen, er ist groß geworden, schenk ihm ein wenig Aufmerksamkeit.»«Ja», brummte ich. Mehr, als dass ich den Sonntag bei Bekannten auf dem Land verbringen und Zuane mitnehmen würde, um ihn für seine guten Erfolge zu belohnen, sagte ich niemandem.
    Mein Onkel Antonio Comin lieh mir eine Arkebuse, ein Pulverfläschchen, eine Kugelbüchse und kurzläufige Pistolen. Die Hunde besaß die Familie Navagero, die sich äußerst überrascht zeigte, als ihnen mein Freund und ihr Sekretär Sebastiano Franceschi meinen Wunsch vortrug, mich einer ihrer berühmten Treibjagden anschließen zu dürfen. In Wahrheit wollte ich sie gar nicht begleiten, war es doch viel zu gefährlich, meinen kleinen Jungen ihrem Feuer und den Lanzen auszusetzen - wir würden gemeinsam bei Sonnenaufgang aufbrechen und uns dann von ihnen
trennen.«Mach, wie dir beliebt, Tintoretto», sagte mir Navagero,«aber glaub nicht, das Genre der Jagdmalerei würde zu dir passen. Du bist nicht aristokratisch genug und verstehst zu wenig vom Adel, um den Geist der Jagd einzufangen.»Auch grobschlächtige Wilderer bringen Tiere um, dachte ich im Stillen.
    Das Pferd war so weiß wie auf meinen Bildern, und als Zuane es erblickte, klatschte er ungläubig vor so viel Glück in die Hände.«Ihr könnt doch reiten, nicht wahr, Signor Tintoretto?», fragten mich die Stallburschen, als sie die Pferde in die Tenne führten.«Bei aller Bescheidenheit, ich bin der beste Reiter von Cannaregio», erwiderte ich.«Und das Bengelchen?»«Auch er», versicherte ich ihnen.

Weitere Kostenlose Bücher