Tintorettos Engel
sind Geister.»Verstört sah er mich an.«Ich sehe sie jeden Tag, mein Sohn. Wenngleich sie nicht kommen, um mich zu erlösen.»
Während Dominico den Prior suchen ging, führte Marco die Lastenträger mit dem Gemälde hinter die Sakristei. Nur vier Stufen
weiter unten waren wir von feuchter Dunkelheit und muffigem Gestank umgeben. Die Totenkapelle ist ein einfacher Raum mit weißen Kalkmauern. Erst kürzlich waren die Arbeiten beendet worden. Das Grab im Boden war noch geöffnet. Jemand hatte äußerst ungeschickt einen Stapel Bretter darübergelegt, doch der Abgrund und eine in der Finsternis verschwindende Treppe sowie viele meterweise unter die Erde reichende Steinfächer waren noch zu erkennen. Die Nische für meine Grablegung Christi über dem Altar war leer. Die Kapelle liegt auf tieferer Ebene als der Fußboden in der Kirche. Sie ist an sich schon ein Grab, was auch gut so ist, da ich auf diesem Bild nicht nur den Sohn Gottes, sondern auch meinen Sohn beerdige.
Verwundert schaute ich mich um. Hunderte von Holzkisten lehnten wie ausgestellte Ware entlang der Wände. Die Knochen der in den letzten vierhundert Jahren in diesem Kloster verstorbenen Mönche waren exhumiert und dort hineingepackt worden, wo sie auf ihre nächste Bestimmung warteten. Offensichtlich war der eine oder andere Knochen dabei abgebrochen, denn auf der Erde lag ein fast weiß aufleuchtendes Becken herum, und auf der Bank hatte man wie einen Spazierstock einen Oberschenkelknochen vergessen. Auf einer Pritsche stapelten sich neben einem Unterkiefer mitsamt allen Zähnen etliche Schädel übereinander. Der siegreiche, nahende Tod rückte uns buchstäblich auf den Leib. Wir waren das, was ihr seid, ihr werdet das, was wir sind.
«Welch ein makabrer Ort», stellte Marco fest, als ich - erschöpft - auf einer Bank vor der leeren Nische niedersank.«Hier gibt es wohl einige Verzögerung, ich werde den Handlangern mal Beine machen. Es wird nicht lange dauern», fügte er besorgt und mit ungewöhnlich sanfter Stimme hinzu.«Wir bringen dich gleich wieder nach Hause, Maestro.»
Ich blieb allein mit den toten Mönchen zurück - und mit meinem toten Sohn Giovanni Battista, den wir Zuane nannten. Ich versuchte,
mir seine Gesichtszüge in Erinnerung zu rufen, um mich in Frieden von ihm zu verabschieden. Mein Junge hatte seiner Mutter ähnlich gesehen. Er hatte das gleiche glatte und feine strohblonde Haar. Doch eine geheimnisvolle, starke Macht hat ihn mir aus dem Gedächtnis geschabt. Ich kann mich nicht an sein Gesicht erinnern.
Einzig ein paar Bruchstücke meines wunderhübschen Sohns Zuane, der ohne eine einzige Spur aus meinem Leben verschwunden ist, geistern durch mein Gehirn - der blonde Flaum, der in der Pubertät auf seinen Wangen zu sprießen begann, die von grünen Tupfern gesprenkelten blauen Augen und seine schmächtigen Schultern mit den wie Flügeln hervorstehenden Schulterblättern. Zuane als Akt - in der Haltung eines Kriegers, Soldaten, Bogenschützen, Märtyrers, einer Frau oder des Teufels. Tausende Male habe ich ihn auf das bläuliche Papier in meinem Skizzenblock gemalt. Immer wenn ich ihn bat, hat er mir Modell gestanden. Wie eine Skulptur studierte ich meinen Sohn. Er war schön wie eine antike Statue, wahrhaftig. Ich kannte jeden einzelnen Muskel, jeden Knochen, jedes Gelenk. An diesen - draufgängerischen, glatten, männlichen - Körper erinnere ich mich gut, sein Gesicht ist mir dagegen entfallen. Was mir von Zuane geblieben ist, sind meine Skizzen und Entwürfe auf Dutzenden von Papieren, die mit der Zeit verblichen sind: vereinzelte, träge Gliedmaßen.
Auch seine Stimme erklingt nicht mehr in meinem Ohr. Nur noch ein paar mit der Zeit durcheinandergeratene Gesprächsfetzen, deren Bedeutung ich nicht mehr nachvollziehen kann, und der Nachklang eines erbitterten Streits - dessen Grund und Ausgang ich nicht mehr weiß. Zuane hat sich aufgelöst, als sich sein Schatten auf meine Seiten und meine Leinwände prägte. All das, was mein junger Sohn gesagt, getan, erlebt hat, ist verschwunden - als hätte er nie existiert. Vielleicht hat er es genau darauf abgesehen. Leider kam mir der Gedanke erst, als ich die dunkle Nische in der Totenkapelle anstarrte.
Letztendlich ist mir nur noch ein Sonntag im November im Gedächtnis - der einzige Tag, den ich gemeinsam mit ihm verbrachte. Der Halbschatten im Dickicht, von ein paar Sonnenstrahlen erhellt, die durch das Laubwerk der Bäume drangen, die Wegkreuzung und das
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