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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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lief ich hinter ihm her. Herunterhängende Zweige und Stacheln kratzten mir das Gesicht blutig. Ich verlor die Arkebuse und das Fläschchen mit dem Schießpulver. Selbstverständlich aber rannte ein Pferd, das darin geübt war, Hunde und Hasen zu verfolgen, schneller als ein Maler von achtundfünfzig Jahren, der üblicherweise still in seinem Atelier stand, und so verlor ich Zuane umgehend aus den Augen.
    Drei Stunden später kehrte das Pferd zur Villa der Navageros zurück, ohne Reiter und ohne Sattel. Der Körper des unechten, weiß angemalten Einhorns lag reglos mitten auf dem Vorplatz: Navageros Diener hatte ihn dorthin geschleppt, damit ich ihn für den Rest seiner Arbeit bezahlte. Es war ein schlanker und eleganter junger Hirsch. Das Horn war spitz und nicht länger als ein Finger. Es tat mir wahrlich leid um ihn.
    Die Hunde fanden Zuane an einer Böschung, der Ohnmacht nahe und mit blutüberströmtem Gesicht. Beim Hinfallen hatte
er sich den Kopf aufgeschlagen und ein Bein gebrochen. Stunden über Stunden hatte er vergebens um Hilfe gerufen, bis ihm die Stimme versagte. Das Fieber stieg.«Alles gut, Papa», flüsterte er auf der Bahre liegend,«ich habe es gesehen, ich schwöre, ich habe es gesehen.»«Gewiss hast du es gesehen», redete ich ihm Mut zu,«wir haben es gefangen.»Und während wir ihn mit blutverschmiertem Gesicht und gebrochenem, von der Bahre herunterhängendem Bein in die Villa der Navageros trugen, zeigte ich ihm das Einhorn: Da ihm der Regen, der inzwischen eingesetzt hatte, über den Rücken rann, sah es so aus, als würde es zittern. Als atmete es. Zuane lächelte.
    Der Arzt sagte, es sei ein schwerer Bruch. Er rückte die Knochen wieder zusammen, schiente das Bein und legte einen Verband an. Er meinte, wenn keine Komplikationen oder Entzündungen aufträten, würde der Junge es schaffen, aber wahrscheinlich würde das Bein, da er gerade erst angefangen habe zu wachsen und der Knochen sich noch entwickeln müsse, ein bisschen kürzer als das andere werden. Mein Sohn würde daher für immer humpeln.«Das macht nichts», flüsterte Zuane,«Maler müssen ja nicht laufen, und Musiker spielen im Sitzen.»Die Navageros boten mir ihre Kutsche an, mit der ich ihn auf der Stelle nach Venedig bringen könne, wo ich gewiss eine bessere Behandlung bekäme. Ich entschuldigte mich bei ihnen für den Unfall und die Unannehmlichkeiten.«Ich habe dir ja gesagt, dass die Jagdmalerei nicht dein Genre ist, Tintoretto», brummte Navagero,«aber immer musst du deinen Kopf durchsetzen.»
    Es hatte den ganzen Nachmittag so heftig geregnet, dass trübe Pfützen den Zufahrtsweg zur Villa beinahe unpassierbar machten. Die Träger liefen im Zickzack durch den Matsch. Nur mit Mühe konnten sie den festgebundenen und fiebernden Jungen in die Kutsche hieven. Endlich fuhren wir los. Aufgrund des Schlamms, der aufgeweichten Fahrrinnen und des Hin und Her der Diener, die die erlegte Beute der Treibjagd in die Küchen des Landhauses
trugen - ein gefiederter Berg voll kleiner Vögel, zu Pyramiden aufgestapelte Fasane und Wachteln, aufgespießte Rehe -, überquerten wir nur im Schritttempo den Hof. Während die Kutsche mit den Löchern in der Erde kämpfte, fiel mir auf, dass der Regen stellenweise die weiße Farbe abgewaschen hatte. Darunter kam nun das rötliche Fell des unglückseligen Hirschs zum Vorschein. Auch Zuane sah es. Und sagte nichts.
    Er beklagte sich nicht über seine Schmerzen, weder während der Rückfahrt noch während der Monate dauernden Genesung. Nie. Bis zur Ankunft wechselten wir kein Wort. Schweigend saß ich neben ihm, vielleicht weil wir uns nichts mehr zu sagen hatten oder weil uns jeder Ton wie eine Verletzung einer vollkommenen Vertrautheit vorgekommen wäre. Das Klappern der Hufe, der Mond im Fensterausschnitt, kreisrund wie eine Münze, und dieser junge Körper, in dem das Leben pulsierte, kernig und schön, wie nur ein männlicher Körper sein kann - nun verletzt, möglicherweise verstümmelt, meinetwegen. Unsere Schatten zeichneten sich auf der Kabinenwand ab: meiner kurz, seiner lang und schmal. Dieser Schatten dort neben meinem - mit dem er sich hartnäckig zu vermischen suchte - ist alles, was ich von meinem Sohn zu behalten vermochte.
    «Wie kannst du nur dermaßen gewissenlos sein, vollkommen wahnsinnig!», schrie mich Faustina an, entrüstet und rasend vor Wut, dass ich unseren über alles geliebten Zuane einer solchen Gefahr ausgesetzt hatte. Den sie mir unversehrt, schön und

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