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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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als die römischen Götter? Während ich auf die Hauptkapelle zuging, ließ ich mich auf die Frage ein, der ich immer ausgewichen war. Glaube ich selbst noch an die Wahrheit, die ich in meinen Bildern dargestellt habe? Ist das von Bedeutung? Muss man an das, was man malt, glauben? Hängt das, was wir malen, mit unseren Vorstellungen, Gefühlen, Überzeugungen zusammen - oder sind wir nur Traumzeichner und Figurenbastler?
    Marco blieb stehen und warf einen prüfenden Blick auf das Letzte Abendmahl an der Wand der Kapelle.«Die Arbeiter haben es zu hoch gehängt», sagte er.«Von hier unten ist der Erlöser fast nicht zu erkennen.»Ich hütete mich davor, ihm zu erklären, dass genau das meine Absicht gewesen sei. Die dramatische Wirkung dieser Entfernung aber entgeht ihm völlig. Nie zuvor hatte ich
Christus so weit von uns entfernt gemalt. Erneut untersuchte Dominico jede einzelne Figur, den schiefen Winkel der Tafel, das Brot und die Trauben auf dem Tablett, die auf dem Boden verteilten Gegenstände und die von Christi Heiligenschein ausgehende Streuung des Lichts. Als parteiischer und großherziger Richter hält er es für eines meiner besten Werke der letzten Jahre. Da gebe ich ihm nicht unrecht. Nicht aus Hochmut oder Mangel an Bescheidenheit: im Gegenteil, aus Demut. Immer habe ich gewusst, was aus mir - dank beruflicher Erfahrung - tot und leblos entsprang und was - durch deine oder meine Gnade - mit Leben erfüllt war.«Wie viele Letzte Abendmahle hast du gepinselt? », fragte mich Marco mit leicht abschätzigem Ton, den er immer annimmt, wenn er über meine Werke spricht.«Zwanzig? Vierzig?»
    Das weiß ich nicht mehr. Den jungen Maler, der vor fünfzig Jahren im Tausch gegen einen Sack Mehl und ein Fass Wein das erste gemalt hat, gibt es nicht mehr. Wie auch die nicht, für die ich es malte, noch diejenigen, die es bewunderten. So alt wie ich zu werden bedeutet, einsam zu werden. Bedeutet, nicht nur die zu verlieren, die uns geliebt und die wir geliebt haben, sondern die Welt, in der wir gelebt haben, zu verlieren. Und in eine neue Welt zu geraten, die uns so unverständlich ist wie ein fremder Kontinent. An den wir uns zwar zu gewöhnen versuchen, der jedoch nie unserer sein wird. Dennoch ist jede Figur, jeder Glaskrug, jedes Gesicht, das ich gemalt habe, allzeit in meinem Geist vorhanden - und ein Teil von mir. Sie sind meine Welt, die fortbesteht und mir Trost gibt.
    «Wie du es nur schaffen konntest, so häufig dasselbe Thema zu bearbeiten, ohne dich zu wiederholen und dabei zu ermüden!», rief Dominico.«Nie werde ich so viel Erfindungsgeist aufbringen können. Schon jetzt gleicht meine Phantasie einer verschrumpelten Feige.»Das, was uns ausmacht, Dominico, hätte ich gern zu ihm gesagt, sind nicht die Themen oder Motive, mit denen wir
beauftragt werden und die von der Religion, der Nachfrage auf dem Markt und dem Geist der Zeit bestimmt werden, sondern die Empfindungen, die wir in sie hineinfließen lassen, wenn wir uns mit ihnen beschäftigen, nachdem sich bereits tausend andere vor uns mit ihnen auseinandergesetzt haben: die Anordnung der Figuren im Raum, die Perspektive, aus der wir sie betrachten, ihre harmonische Verteilung in einer Landschaft oder die Enge der Räume, in der sie eingesperrt sind, das Vorhandensein von Gegenständen oder aber die Abstraktion und die Reduktion von Personen auf Einbildungen, die Menge an Informationen über die Geschichte, die man vorgibt oder unterschlägt. Und vor allem das Verhältnis der Personen untereinander - Verbundenheit, Abscheu, Ergebenheit, Groll. Die Art, mit der jeder die Existenz des anderen zulässt, eingrenzt oder hervorbringt, genauso wie es sich unter den Menschen verhält. Ein perspektivisch verkürzter Körper, ein ergreifender Sonnenuntergang, die Tiefe des Schattens, die Poesie einer entblößten Schulter, die Melancholie einer auf der Erde liegenden Flasche, die Einsamkeit einer Palme im Wind … Diese Empfindungen sind wie Licht. Sie verändern sich mit uns. Wir sind wie die immer weiterlaufende Zeit. Meine Bilder haben sich mit mir verändert.
    Doch ich schwieg. Ich bin es leid, ihm den Weg zu weisen. Ich bin meinen gegangen, er wird seinen schon finden, vielleicht. Seltsamerweise erfüllt mich seine aufrichtige Bewunderung mit Bedauern.«Die Engel um die Feuerschale, Vater», flüsterte er,«sie sehen so echt aus, viel echter als die Apostel: Hast du etwa einmal einen gesehen?»«Das sind keine Engel, Dominico», antwortete ich.«Das

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