Tintorettos Engel

glücklich an seinem zehnten Geburtstag anvertraut und den ich ihr verletzt, fiebernd und vielleicht für immer humpelnd zurückgebracht hatte.«Noch nie in deinem Leben hast du dich auf ein Pferd gesetzt, noch nie bist du zur Jagd gegangen, noch nie hast du eine Armbrust, eine Hakenbüchse oder eine Pistole in der Hand gehalten, noch nie hast du einen Schuss abgefeuert, du hasst die Jagd, und du hasst Jäger, was hast du dir dabei gedacht? Was wolltest du meinem Sohn antun? Wolltest du ihn umbringen?»«Warum
schreist du so, Mama?», wisperte Zuane,«wir haben das Einhorn gesehen, es war der schönste Tag meines Lebens.»
     
    Als ich von seinem Tod erfuhr, hatte ich seit über einem Jahr nichts mehr von ihm gehört. Ich erhielt die Mitteilung von den Beamten des Sanitätswesens, in seinem Zimmer war eine Bestandsaufnahme gemacht worden. Wenn ich seinen Besitz erben wollte, musste ich bei den vorsitzenden Richtern eine Klage anstrengen und beweisen, dass ich sein Vater war. Ich nahm zwar nicht an, dass mein Sohn etwas von Wert besaß, das die Kosten für ein Zivilverfahren rechtfertigten, ich wollte mir jedoch einen Gegenstand zurückholen, an dem ich sehr hing - und meinem lieben Dominico schenken, der es zu schätzen wissen würde. Davon abgesehen wollte ich verhindern, dass meine Gemahlin erfuhr oder auch nur ahnte, dass unser Sohn verarmt gestorben war. Außerdem sollte sie nicht meinen, ich würde Zuane zum wiederholten Male verkennen. So ging ich zum Richter für vermögensrechtliche Angelegenheiten und eröffnete das Verfahren.
    Einen Monat später erhielt ich die Vorladung zum Gericht im Dogenpalast. Das Urteil fiel zu meinen Gunsten aus. Wie hätte es auch anders sein können? Ich war, bin und werde für immer sein Vater sein. Im Leben eines Mannes ist die Vaterschaft das einzig Unwiderrufliche - abgesehen vom Tod. Alles, was Giovanni Battista Robusti besessen hatte, gehörte nun mir. Doch das Hab und Gut des eigenen Sohnes zu erben hat etwas Unnatürliches und Schauriges, Herr. Die aus Zakynthos eingetroffene Kiste konnten wir im Lagerhaus abholen. Marco kümmerte sich darum, sie nach Hause transportieren zu lassen.«Was für ein phantastischer Tag, Menego!», sagte er mit ironischem Unterton und klopfte seinem Bruder auf die Schulter.«Der alte Saturn hat einen weiteren Sohn verschluckt. Das verkrafte ich nur, wenn ich heute zum Trunkenbold werde, und sollte sich das Meer in Wein verwandeln, dann verwandle ich mich auf der Stelle in einen Fisch. Schick schon
mal ein Stoßgebet zum Himmel, denn wenn Gott sich nicht verrechnet hat, dann bist du der Nächste.»
    Zusammen mit den Lastenträgern trollte er sich. Er konnte mich keinen Augenblick länger ertragen. Wofür ich ihm dankbar war. Manchmal war mir einfach alles an ihm zuwider. In einem Gemälde kann ich einen Fehler korrigieren, Herr. Ich schaue es mir an, erkenne, wo und warum ich mich vertan habe, und male darüber. Sie nennen es Reue . Welch ein schönes, wahres Wort. Menschen aber bleiben, so unvollkommen sie sein mögen, das, was sie sind. Selbst wenn man durch genaues Hinsehen erkennt, wo und warum sie gefehlt haben. Reue kann in diesem Fall nichts berichtigen oder verschönern.
    Zuane hatte nicht viel bei sich gehabt. Als er Venedig verließ, wollte er alles, was er gewesen war und ihn daran erinnerte, wer er hätte werden können, hinter sich lassen. Ein Lederkoffer reichte für Wäsche und Hemden - die Samtmütze und den Luchspelzmantel mit den Goldknöpfen und dem mit Marderfell gesäumten Kragen trug er am Körper. Was die Kiste aus Zakynthos enthielt, wusste ich nicht. Ich suchte nicht nach einer Erklärung für den Tod meines Sohnes, sondern für sein Leben - oder wenigstens einen Hinweis, der mir half, es besser zu verstehen. Ich brach die Siegel und legte den gesamten Inhalt nacheinander auf den Teppich. Die kümmerlichen Sachen stapelten sich wie Wrackteile eines gekenterten Schiffes auf dem Boden meines Ateliers. Der mehr als gewissenhafte Notar, der für die Bestandsaufnahme des Vermögens von Giovanni Battista Robusti verantwortlich gewesen war, hatte sogar den schlechten Zustand und die minderwertige Qualität seiner Sachen festgehalten. Folgende Dinge wurden im Zimmer meines Sohnes gefunden:
    1 Lederkoffer
    1 Bronzeglocke
    3 abgewetzte Herrenhemden

    4 alte und zerschlissene Lederstücke
    5 schmutzige Tischtücher
    1 gebrauchtes, schmutziges Laken
    1 Zinnkandelaber
    1 Morgenrock
    1 Zinnteller
    1 völlig zerrissenes grünes