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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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Herzen, dem Maler - den er nun endlich gefunden habe - etwas mitzuteilen. Ich hätte in diesem Gemälde sämtliche namenlosen Kranken verewigt, alle, die an der Seuche und allen anderen möglichen Krankheiten gelitten, die alle Arten von Schmerz, Leiden und Demütigungen, die der sterbende Körper hervorbringt, erfahren haben. Wenn diese Kranken es wert seien, im Werk eines großen Künstlers abgebildet zu werden, dann sei auch er ein würdiger Mensch. Ich höchstpersönlich hätte seinem Leben wieder Würde verliehen.
    Lachend schlug ich ihm vor, sich ein paar neue Brillengläser zu kaufen. Doch ich muss gestehen, dass mich die Worte des Gondoliere, dessen Namen ich nicht einmal kenne, mehr berührten als jedes Lob aus dem Munde eines Prinzen. Sollte ich morgen schon in Vergessenheit geraten sein, so wird mein Werk wenigstens einer Person etwas bedeutet haben und seine Erschaffung wert gewesen sein. Wenn ich seinem Leben Würde verliehen habe, dann hat er meinem Leben einen Sinn gegeben. Ich erklärte ihm hingegen, dass er sich irre - ewig sei lediglich Gott, Gemälde jedoch nicht. Sowohl der Anstrich als auch die Leinwand verzehrten sich von selbst. Die Farben würden verbleichen, abbröckeln, nachdunkeln und am Ende verschwinden. Denn Gemälde seien lebendig, und
alles Lebende sei dem Tod geweiht. Sich wie ein Aal windend, gelang es dem Gondoliere am Ende doch noch, meine Hand zu küssen.
    «Selbst die Gondoliere schätzen dich», bemerkte Marco und klopfte an die Klosterpforte.«An deiner Stelle würde ich mir langsam Sorgen machen. Ausnahmsloser Erfolg ist ein Zeichen des Niedergangs. Zu vielen zu gefallen ist gefährlich.»«Noch gefährlicher ist es, niemandem zu gefallen», entgegnete ich.«Mir genügt es, mir selbst zu gefallen», erwiderte Marco stur, der in unseren Diskussionen immer das letzte Wort haben musste. Er provozierte, um Streit vom Zaun zu brechen. Ich wollte ihm aber nicht die Genugtuung geben, nicht am Tag von Giovannis Beerdigung. Ich glaubte, meine Seele von dem niederen Trieb, mich mit meinem Sohn zu streiten, befreit zu haben - aber auch das war eine Illusion, Herr.
    Die Kirche war voller Gerüste und Bauschutt und dröhnte vom Lärm der Hammerschläge. Langsam trugen die Gehilfen des Bildhauers den Ewigen Gottvater zum Hochaltar. Im Liegen sah der als schwere Bronzestatue gegossene Herrgott aus, als schliefe er. Die Welt, auf der er stand, glich einem Ball zum Spielen. Es war eine gewagte und machtvolle Skulptur. Girolamo Campagna - mit zerzaustem Haar und schweißtriefend - wies höchstpersönlich seine Gehilfen an. Diese riesige Altarskulptur zu transportieren musste schwieriger sein, als sie zu hauen und in Bronze zu gießen. Er bemerkte mich nicht. Wir gingen an einer im Bau befindlichen Seitenkapelle vorbei. Es war Marcos Baustelle. Schon ein Jahr lang wartete sie darauf, entfernt zu werden. Doch mein Sohn ist der Arbeit nicht sonderlich zugeneigt. Lieber spielt er mit den Würfeln, übt sich im Fechten oder suhlt sich in fremden Betten. Auf einmal blendete mich ein grelles Licht: reflektierende Sonnenstrahlen auf den metallenen Orgelpfeifen. Als ich nach oben schaute, hatte ich den Eindruck, Marietta als versteinerte, erwachsene Frau auf der Orgelbank sitzen zu sehen, vor ihr der Schatten
eines hageren Mannes. Doch es war ein männlicher Novize mit blondem Haar, der vor dem Manual saß. Auffällig viele Arbeiter mit nacktem Oberkörper kamen uns in der Kirche San Giorgio entgegen, damit beschäftigt, Nägel irgendwo hineinzuhauen und schwere Lasten zu tragen, während sie unüberhörbar schimpften und fluchten.
    Einen Moment lang dachte ich darüber nach, was mit unseren Kirchen geschähe, wenn die Menschen eines Tages nicht mehr an dich glaubten, Herr - und was dann aus meinem eigenen Werk würde. Vielleicht würde man mit den Leinwänden, die ich in tiefem Glauben gemalt habe, Feuer bestücken oder sie im Kamin des Kindes unserer Kindeskinder verbrennen. Ein anderer würde sie sich vielleicht anschauen, weil sie ihm etwas erzählen, obwohl er die Geschichte nicht kennt und ihre Bedeutung nicht versteht. Ich selbst habe mich einmal mit einer Venusstatue und einem schlafenden Liebesgott beschäftigt, ohne mich zu fragen, woran ihr Bildhauer glaubte. Vor ein paar Jahren hätte ich diese Haltung noch als häretisch und blasphemisch abgeurteilt, heute aber erscheint sie mir unvermeidlich. Die Republik Venedig wird länger bestehen als das Römische Reich, aber Jesus Christus länger

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