Tintorettos Engel
versunken und verborgen. Darüber hinaus hielt sie Venedig für eine Stadt ohne Halt, die
tanzt und Purzelbäume schlägt, schwankt und zergeht, gleichsam eine Gefangene der Launen des Wassers. Ein Labyrinth, aus dem man nicht mehr herauskommt, da seine Gassen nirgendwo hinführen - eine Stadt ohne Straßen. Augsburg dagegen sei eine Stadt, deren Straßen eine Richtung und immer irgendein Ziel hätten, sie fuße nicht auf unruhigem und ewig schwankendem Gewässer, sondern auf unbeweglichem Fels - kurzum, sie meinte, dort oben wäre sie standhaft geworden, hätte den wichtigsten Teil von sich ausleben können, anstatt ihn verbergen zu müssen, wäre möglicherweise aus dem Labyrinth ausgebrochen.»
Ich erinnere mich noch gut an mein letztes Gespräch mit Marietta über Augsburg. Es war an einem Abend im Dezember, vier Tage vor Weihnachten. Erst fünf Monate zuvor hatten wir das offizielle Ende der Pest gefeiert. Es war wie ein Auferstehen. Um die Verwüstung der Stadt zu vergessen, gab sich Venedig einer Orgie von Festen, Bällen und Veranstaltungen hin. Meine ältesten Söhne Dominico und Marco hatten sich von diesem zehrenden Freudentaumel anstecken lassen - woran ich sie nicht zu hindern suchte. Zwei Jahre ihrer Jugend hatte die Pest ihnen geraubt, nun stand das Leben bei ihnen in der Schuld. Auch Marietta untersagte ich nicht, an den Festivitäten teilzunehmen, immerhin hatte der Tod mit ihr angebändelt. Sie ging jedoch nicht hin. Vielmehr wich sie mir nicht von der Seite. Erst kürzlich hatte sie das Holzlager verlassen.
Das Unglück vom zwanzigsten Dezember war wohl der Beweis, dass wir Gottes Zorn doch noch nicht besänftigt hatten. Erst hatte er sich an unserem Privatleben schadlos gehalten, nun rührte er das an, was allen gehörte, unseren Staatsschatz: den Staat selbst. Im Nachhinein hieß es, das Feuer habe sich aufgrund der defekten Kamine bis in die Gemächer des Dogen und der Palastwachen ausgebreitet. Im Nu habe der Wind die Flammen in die benachbarten Uffizien getragen, in denen sich bis zur Decke notarielle Schriften
türmten. Das Papier habe etliche Feuer genährt, die auf die angrenzenden Räume übergegriffen und sich an Bänke und Richtersessel geheftet hätten - allesamt aus Holz. Diese offizielle Version wird jedoch von den Venezianern angezweifelt: Noch immer glauben wir, dass die Explosion eines Brandkörpers die Ursache war. Die Explosion des Arsenals acht Jahre zuvor hatten alle noch lebhaft im Gedächtnis: Abgesehen von Schäden an der Flotte und den Werften waren zahlreiche Menschen umgekommen. Damals waren es die Schutzmänner des Sultans, die das Arsenal in die Luft jagten. Es war die Vorankündigung des Krieges, den sie uns tatsächlich unmittelbar danach erklärten. Sie wollten uns einen Schrecken einjagen - uns wissen lassen, dass sie mitten unter uns waren und sich niemand in Sicherheit wähnen konnte. Aber welcher Krieg kündigte sich nun an?
Dominico und Marco waren gemeinsam mit Pauwel und Lodewijk, die zu jener Zeit für mich arbeiteten, zum Dogenpalast gerannt, als das Feuer den Himmel über dem Markusplatz rot färbte und die ersten Mannschaften von der Werft mit Leitern, Eimern und Gerätschaften zum Feuerlöschen auf den Platz strömten. Freiwillige waren vonnöten, um aus der Waffenkammer Rüstungen, Waffen und Pulverfässer herauszutragen - und zu verhindern, dass alles in die Luft flog. Tausende Schriften, Traktate, Prozess- und Gerichtsakten mussten in Sicherheit gebracht werden - kurzum, der Staat an sich. Marietta und ich schauten von einem Fenster aus auf das unheilvolle grelle Licht über den Dächern.
Auch meine Geschichte befand sich in diesem Palast, Herr. Fünfundzwanzig Jahre meines Lebens hingen in Rahmen gekleidet an diesen Wänden. Als ich dort das erste Gemälde malte, war ich fünfunddreißig Jahre alt und bildete mir ein, mir damit einen Posten unter Venedigs Meistern sichern zu können. Es fand jedoch keinen Gefallen, und meine Gegner sorgten dafür, dass ich eine Ewigkeit auf die nächste Gelegenheit warten musste. Um die
Seeschlacht von Lepanto zu malen, habe ich wie unsere Soldaten bis aufs Blut gekämpft. Ich brachte ein altes, in seinem Panzer aus Genialität und Größe unbesiegbares, hundertjähriges Idol zum Kentern und riss ihm die Siegesfahne aus der Hand. Denn nicht mein Erzfeind Tizian sollte derjenige sein, der unseren Triumph rühmen durfte, sondern ich. Ich musste der Zeuge meiner Zeit werden, ihr Gedächtnis und ihre
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