Tintorettos Engel
Venedigs waren gekommen, um sich persönlich ein Bild vom Ausmaß der Katastrophe zu machen, denn der Dogenpalast war nicht nur Sitz unserer Regierung, sondern auch unser Museum, unser öffentliches Gedächtnis. Hier hatte jeder Meister ein Zeichen seines Stils und seiner Zeit hinterlassen - Guariento, Vivarini, Giorgione, Tizian, Veronese.
In der Menge erkannte ich den Dogen Sebastiano Veniero, unseren korpulenten Held von Lepanto, der völlig entsetzt mit ungekämmtem Bart und wirren Haaren zwischen den verrußten Wänden umherirrte.«Tintoretto», sagte er zu mir, als ich mich vor ihm verneigte,«wenn ein Maler um seine toten Gemälde wie ein Kommandant um seine Männer trauert, dann erfährst
du heute den Preis der Schlacht.»«Eure Durchlaucht, verehrter Fürst, alle meine Gemälde sind nichts angesichts des Lebens eines einzigen Mannes», wandte ich ein. Da er auf einem Ohr taub war, musste ich um ihn herumlaufen und denselben Satz erneut in sein anderes Ohr schreien, während alle Anwesenden verstummten und mir zuhörten.«Das habt Ihr wahrlich schön gesagt», seufzte Veniero,«obschon es nicht stimmt, Tintoretto, zuweilen muss man auch für ein Bild sterben, denn auch ein Bild ist Teil unserer Zivilisation.»
Im Ratssaal hatte ich zwei Gemälde verloren. Nichts Denkwürdiges. Werke von offiziellem Charakter, ein wenig Pathos, ein wenig bürgerliche Rhetorik, so viel Patriotismus, wie man von einem Künstler erwarten kann, den man etwas werden lässt. Nur Geduld. Im Lauf der Zeit war ich ja ein besserer Maler geworden. Und immer, wenn ich etwas verlor, habe ich die Ärmel hochgekrempelt und von Neuem begonnen. Das würde ich auch diesmal wieder tun. Die Werftarbeiter versuchten, uns am Betreten des Waffensaals zu hindern. Die Decke sei teilweise eingestürzt, Balken hingen in der Luft, es sei einfach zu gefährlich. Sollte es zu einem neuen Einsturz kommen, würden wir unter den Trümmern begraben werden.«Lass uns gehen, Marietta», sagte ich und zog sie am Ärmel.«Nein», sagte sie, und an den Wachjungen an der Tür gewandt:«Ihr müsst uns durchlassen. Wisst Ihr nicht, wer das ist? Er ist Tintoretto, Maestro Jacomo Robusti. Er hat diesen Saal bemalt.»«Geht nicht da rein, gnädige Frau», entgegnete ihr der Junge.«Da gibt es nichts mehr zu sehen. Tut mir leid.»
Doch schon war Marietta in ihrem weißen Pelzmantel im Nebel verschwunden. Wie in einem schlechten Traum folgte ich ihr. Mit welcher Hingabe hatte ich mich fünf Monate lang mit dem Jüngsten Gericht beschäftigt! Ich hatte gewagt, es mit dem mächtigsten, kühnsten und freimütigsten Maler aller Zeiten aufzunehmen, mit Michelangelo. Ob ich dem Vergleich standgehalten habe? Ich weiß es nicht. Die Malerei ist keine Regatta, bei
der es nur einen Sieger gibt und alle anderen als Zweiter, Dritter oder Letzter im Ziel eintreffen. Alle rudern im selben Meer, nur zu unterschiedlichen Zeiten. Es gibt weder ein Ziel, noch kommt man jemals an. Ich rechnete nach und stellte fest, dass ich die Seeschlacht von Lepanto bereits vor fünf Jahren beendet hatte. Diese beiden Leinwände, die im Saal der höchsten Macht hingen - wo derjenige gewählt wird, der uns anführt -, waren das sichtbare Zeichen meines Erfolgs. Sprachlos blieben Marietta und ich in der Mitte des Saals stehen. An der Decke sah man den Himmel, milchig weiß. Pulvriger Staub und Asche regneten auf uns herab. Über uns war - nichts.
An der Stelle der Seeschlacht befand sich ein schwarzer, schmieriger Fleck aus verkohltem Gewebe. An der Stelle des Jüngsten Gerichts eine grässliche Wunde, die wie verbrannte Haut aussah, da das Feuer die Leinwand teils in Asche verwandelt und die Hitze sie teils mit dem darunterliegenden Putz verschmolzen hatte, der nun bis auf sein Knochengerüst - die Mauerziegel - abzubröckeln begann. Ich weinte nicht um den Verlust meiner Seeschlacht . Auch nicht um den meines Jüngsten Gerichts . Vielmehr weinte ich um den Verlust der Vergangenheit - es war, als wäre ein Stück meines Lebens zu Asche verbrannt.
Verstehst du, Herr, diese Bilder, die Anstrengung jener Tage, der Ehrgeiz, der mich antrieb, sie zu erschaffen, all das bedeutete mir nichts mehr. Es hat weder einen mangelhaften Kamin noch eine Verschwörung gegeben: Dieses Feuer war eine Warnung. Du hast diese Flammen geschickt, um mich an unsere Abmachung zu erinnern. Denn ich war dabei, wie ein Falschspieler zu tricksen - ich bildete mir ein, mit einem kleinen Notbehelf auch dich, Herr, hintergehen zu
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