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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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er, solange Marietta lebte, nicht im Traum daran gedacht habe fortzugehen. Erst seit ihrem Tod wünsche er sich nichts lieber.«Obwohl sie die Möglichkeit nie hatte, sich die Stadt anzusehen, erzählte sie mir unentwegt davon. Ich wusste nicht einmal, wo sie lag. Mein Vater hatte mich ja nicht in die Schule geschickt. Als ich Signora Marietta schließlich meine Unwissenheit gestand, zwinkerte sie mir zu und teilte meinem Herrn
mit, dass ich krank sei und an jenem Tag nicht mit ihm in den Laden könne. Ich war aber gar nicht krank. Wir gingen zum Buchladen Al Dio del Mar hinter San Zaccaria. Der Buchhändler war ein strohblonder Deutscher namens Martino. Ich erinnere mich nicht, was sie zu ihm sagte, ehe er eine Landkarte hervorholte.
    Er wickelte auf dem Ladentisch eine Art Betttuch aus. Europa war riesig, Venedig ein dunkler, großer Fleck genau in der Mitte der Welt. Signora Marietta beugte sich über die Karte und begann, nach Augsburg zu suchen. Sie fand es aber nicht. Bestürzt merkte ich, dass selbst sie nicht wusste, wo es lag. Also neigten wir uns alle beide über den mysteriösen Kontinent. Mit dem Finger fuhren wir entlang der schwarzen Streifen auf dem Pergamentpapier die Flüsse hinauf und suchten nach den Grenzen der Republik. Da war die Adda, dort der Isonzo. Wir fanden Innsbruck, dann München und schließlich Augsburg. Es war ein kleines Ringelchen auf der Karte - sehr viel kleiner als Venedig.»
    Verblüfft hörte ich mir Iseppos Erzählung an. Ich habe nicht gewusst, Herr, dass Marietta über Augsburg gesprochen hat, und schon gar nicht, dass sie wissen wollte, wo es lag. Die Idee, einmal dahin zu fahren, haben wir nie in Betracht gezogen. Selbst Cornelia hatte nie den Wunsch geäußert, nach Deutschland zurückzugehen oder ihrer Tochter das Land ihrer Väter zu zeigen. Sie wollte ihr nicht einmal Deutsch beibringen. Ich war es, der sie dazu drängte, weil wir beide unserer Tochter das beibringen mussten, was wir konnten: Das, so schien mir, ist die Hauptaufgabe der Eltern. Außerdem ist es für Kinder wichtig zu wissen, dass es noch eine andere Welt gibt als die, die sie sehen - eine Welt der Vorstellungen, in der sie ihre Phantasien unterbringen und in die sie sich immer dann zurückziehen können, wenn die, in der sie leben, sich als trostlos und böse erweist.
    Ich liebte es, den Unterhaltungen meiner Frauen zu lauschen. Alle Welt behauptet, Deutsch sei eine harte und brutale Sprache. Für mich war sie zeitlebens die Sprache der Liebe. Nachdem Cornelia
nach Deutschland oder vielmehr ins Krankenhaus von Santa Misericordia gegangen war, wollte Marietta kein Wort Deutsch mehr sprechen. Ich musste sie anflehen, mir die Lieder vorzusingen, die ihre Mutter immer gesungen hatte. Aber je älter sie wurde, desto häufiger weigerte sie sich.«Ich erinnere mich nicht mehr», behauptete sie.«Ich hab es verlernt.»
    Auch wenn mir Otto eine Arbeit in Deutschland anbot, was hin und wieder vorkam, habe ich nie zugesagt, sondern mit einem Augenzwinkern in Richtung Marietta geantwortet: Was soll da in Augsburg schon sein? Bankleute, die uns nicht mit Gold überhäufen. Ein Kaiser, der nie über uns regieren wird. Kirchen, die nicht so prachtvoll sind wie unsere. Menschen, mit denen wir uns nicht einmal unterhalten können. Wir sind an unsere Stadt gebunden wie ein Fischer an sein Boot oder ein Schriftsteller an seine Sprache, denn was eine Stadt ausmacht, ist ihr Licht, ihre Ausdehnung, ihr Geruch, ihr Himmel, die Beschaffenheit ihrer Farben und die Tiefe ihrer Nächte - wir sind ein Teil von Venedig.
    Und nun erfuhr ich von diesem Iseppo, dass meine Tochter ganz Venedig durchquert hatte, um mit dem Gesellen von Steiner auf einer Landkarte eine Stadt zu suchen. Ich fragte, was Marietta ihm noch erzählt habe. Iseppo konnte sich nicht im Einzelnen an ihre Worte entsinnen.«Seitdem ist viel Zeit vergangen, und die Signora hat für mich als kleinen Jungen immer so viele komplizierte und unverständliche Dinge gesagt. Sie sagte, dass es in Augsburg weder Wasser noch eine Lagune gebe, auch keine Sonne und orientalischen Düfte, es befänden sich dort lediglich Macht und Gold.»«Warum interessierte sie sich dann überhaupt dafür?», unterbrach ich ihn.«Signora Marietta meinte, Venedig sei eine gefährliche Stadt, ohne Wurzeln, geheim und versteckt - denn den wichtigsten Teil, der sie stütze und auf dem sie sich gründe, könne niemand sehen. Wie verbotene Gedanken oder unsägliche Wünsche liege er irgendwo

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