Tintorettos Engel
Fiebertag
Während meiner Jugend fanden in sämtlichen Kirchen Venedigs, auf jedem Platz und in jedem Palast heftige Diskussionen über Vorherbestimmung und Gnade statt. Das Heilige Konzil hatte uns noch nicht verkündet, was wir davon halten sollten, die Vorstellungen dieses Deutschen namens Martin Luther aber stießen bei vielen Predigern und deren Anhängern auf Zustimmung. Nach den Lesungen und Messen standen die Menschen aufgeregt diskutierend beisammen und gingen erst nach Stunden wieder auseinander. Theologen und Patrizier, Priester und Schreiner, Goldschmiede und Färber. Eine andere Epoche hatte begonnen, wie ein Dunststreifen, der am Himmel auftaucht und nach einer Weile zu einem Wolkenfetzen wird, der sich mit immer mehr Wolken vermengt, bis es schließlich dunkel wird und zu regnen anfängt. Zuerst war es verboten, gewisse Dinge zu sagen, dann, Bücher zu besitzen, in denen sie behandelt wurden, und schließlich durfte man sie nicht einmal mehr denken.
Heute wird einem bereits wegen eines unrichtigen Satzes der Prozess gemacht - und einem Maler, wenn er eine Figur nicht korrekt gemalt hat. Oder vielmehr, wenn sie nicht in den heiligen Schriften wiederzufinden ist, wenn sie etwas tut, was noch nicht beschrieben worden ist, oder wenn sie es auf andere Art tut. Ich kann mich nicht mehr gut an die ganzen Worte entsinnen, die vielleicht mit Theologie oder aber einfach nur mit dem Sinn des Lebens zu tun hatten. Ich will sie auch gar nicht im Gedächtnis behalten, da meine Kirche, nach der ich mich richte, sie verdammt hat: Alle Bücher, in denen sie vorkamen, haben wir verbrannt.
Eines Tages fiel mir auf, dass auf dem Kaminsims anstelle meiner Bücher eine Vase mit Blumen stand. Wir waren erst seit Kurzem verheiratet und Faustina noch sehr jung. Keine sechzehn Jahre alt. Daher nahm ich an, sie hätte sie bloß umgestellt. Allerdings waren sie nirgends zu finden. Nicht nur die Kommentare zu den Evangelien und die Bücher über Gnade und Vorherbestimmung waren verschwunden, auch alle Gedichtbände, Geschichtsbücher, die etwas freizügigeren Erzählungen, und selbst die lateinischen Märchen und Romane waren weg. Einige waren von gewissem Wert, da auf dem Buchdeckel der Autor unterschrieben hatte. Und die Truhe, in der ich die deutschen Bücher von Cornelia aufbewahrte - das Einzige, was sie Marietta vererbt hatte und ich ihr eines Tages überreichen wollte, waren sie doch das letzte Zeugnis ihrer leibhaftigen Mutter auf Erden -, war voller Handtücher und Putzlappen. Anfangs bestritt und leugnete sie es; doch am Ende räumte sie ein, sie dem Beichtvater ausgehändigt zu haben, da er ihr sonst weiterhin die Absolution verweigert hätte. Mit grauenvollen Strafen habe er ihr gedroht, gar mit dem Fegefeuer - da habe sie Angst um mich bekommen.«Der Beichtvater hat unser Haus doch gar nicht betreten», fauchte ich sie an,«woher soll er wissen, was sich in meinem Zimmer befindet?»Ich kannte das Gesetz, das die Priester nötigte, sich bei den Christen ihrer Gemeinde nach ihren Büchersammlungen zu erkundigen. Aber in dieser Republik gibt es so viele Gesetze, niemand kann sie alle einhalten.
Faustina gestand, ihm eine Liste mit allen Titeln unserer Bibliothek überreicht zu haben. Etliche davon hatte man mit einem Bann belegt und aus den Läden genommen. Schon vor geraumer Zeit hätte ich sie herausgeben müssen, damit sie vernichtet wurden - und die falschen Gedanken nicht die Seele ahnungsloser Leser verdarben. Von ein paar Freunden wusste ich, dass sie ihre indizierten Bücher den Buchhändlern zurückverkauft hatten, die sie nun für den doppelten und dreifachen Preis unter dem Ladentisch
handelten. Ich jedoch hatte sie aufbewahrt, da sie mich an vergangene Zeiten erinnerten, an meine Jugend und an Personen, die nicht mehr unter uns weilten. Sie waren mein Gedächtnis: Sie standen für all das, woran ich geglaubt hatte, für meine Gedanken und die Worte, die ich gern in den Mund nahm - wenngleich diese Dinge, Gedanken und Worte indes gar nicht mehr so viel mit mir zu tun hatten.«Du bist eine richtig dumme Gans», schalt ich Faustina. Ihr kamen die Tränen, doch nun war es zu spät. Sie hatte die Bücher dem Beichtvater gegeben, der sie dem Vikar und dieser dem Patriarchen überreicht hatte. Sie waren alle verbrannt worden. In meinem Haus gibt es keine Gedichtbände, keine Bücher über Geschichte oder Philosophie und auch keine ausschweifenden Erzählungen mehr.
Ich glaube, der Deutsche meinte, unser Heil
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