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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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zu ziehen.«Sag das noch einmal, und ich stech dich ab.»Im Schein der Öllampe blitzte ein metallener Gegenstand auf. Es war mein Dolch. Ich wusste nicht, dass Marietta ihn in ihrer Tasche mitführte.
    Glücklicherweise trat in diesem Augenblick die Kurtisane ans Fenster und lud die Kerle zu sich ein. Nachdem die Magd ihnen die Pforte geöffnet hatte, fingen sie an, sich gegenseitig eine dunkle Stiege hinaufzuschubsen.«Stich mich doch ab», lachte der Betrunkene und presste Marietta gegen die Mauer,«ich sag es gern noch einmal: Lass dich nicht von einem alten Zwerg wie deinem Vater vögeln.»Und während die Klinge in die verputzte Hauswand eindrang, drückte ihr der junge Mann seinen Mund auf die Lippen und steckte die Zunge in ihren Hals. Dann glitt auch er durch die Tür und war verschwunden.
    Ich sammelte unsere Masken auf. Die Beleidigungen hallten in meinem Kopf wider, und mein Mund brannte.«Ich habe ihn wiedererkannt», sagte Marietta verbittert,«er war auf dem Fest der Mocenigo.»
    Stumm setzten wir unseren Weg nach Hause fort, vorbei am Krankenhaus für unheilbar Kranke. Aus dem Gebäude drangen stöhnende und jammernde Laute, die sich zu einer einzigen Stimme vermengten - wie ein unterdrücktes Weinen, der Widerhall eines untröstlichen Leids. Marietta blieb auf einmal stehen und legte ihre Arme um mich.«Ich will nicht nach Hause», flüsterte sie.«Marietta», seufzte ich und fasste sie um die Hüfte,«mein Funke.»«Nehmen wir die Einladung an», versuchte sie mich
herumzukriegen.«Lass uns nach Madrid gehen. Du wirst malen, ich werde malen. Wir werden auf ewig zusammenbleiben, es wird nichts anderes geben. Bring mich fort von hier, Jacomo.»
    Ich schaute auf ihre feuchten, im Dunkel glänzenden Lippen. Ihr Mund war nicht wie meiner. Ich hatte kein Grübchen im Kinn, keine spitze Nase und keine blonden Haare. Ich spürte, wie sie ängstlich ein- und ausamtete. Der Moment war so spannungsgeladen wie der Augenblick zwischen Blitz und Donner. Egal.
    «Du wirst den Goldschmied Marco Steiner aus Augsburg heiraten», presste ich hervor und lockerte meinen Griff.«Er ist unmusikalisch», protestierte Marietta.«Er kann nicht malen. Nicht schreiben. Wie soll ich mit einem solchen Mann leben können?»Ich wusste, dass es etwas gab, das fortan der Vergangenheit angehörte - so nah wie in jener Nacht würde ich Marietta nie wieder sein.
    Wir liefen unter den Arkaden der Abtei entlang. Ich verscheuchte ein paar Mäuse, die zwischen den Pfeilern umherwuselten. Ich erklärte ihr, dass ich lange darüber nachgedacht hätte, weil ich jemanden finden wollte, den es mit Stolz erfüllte, der Gemahl von La Tintoretta zu sein. Einer berühmten Frau. Einer besonderen Frau. Dieser Jemand konnte kein Venezianer sein. Und auch kein Maler. Ein Maler ließe sie nicht malen, aus Angst, dass sie eines Tages besser sein würde als er.«Du auch nicht?», fragte sie mich. Doch es war vorbei, wir waren vor unserem Haus angekommen. Marietta wartete noch auf eine Antwort, die sie nicht erhielt.
    Der Glockenturm von Madonna dell’Orto warf seinen langen schwarzen Schatten auf den Altan. Zwischen dem zweibogigen Fenster steckte eine qualmende Fackel - Faustina hatte sie für uns brennen lassen. Es war sehr spät geworden. Mit Wucht betätigte ich den Türklopfer und rief:«Aufmachen! Aufmachen!»Wenn ich noch eine Minute länger da draußen stehen müsste, so bangte ich, hätte ich nicht mehr gewusst, was ich tat. Vor meinem geistigen Auge sah ich den Palast des spanischen Königs. Hunderte
Zimmer, die auf ihre Bilder warteten. Klar und deutlich sah ich die Wände vor mir, die Decken, das Mobiliar, die Fenster und die Räume, die sie uns zur Verfügung gestellt hätten, und sie und mich, und ich sah das andere Leben vor mir, mein verzerrtes, zugrunde gerichtetes, zerstörtes Leben, das direkt vor mir stand und das ich wollte. Ich wollte es mit jeder Faser meines Körpers. Ich fühlte mich lebendig, Herr, so hoffnungslos lebendig, dass ich mir in jener Nacht den Tod wünschte.«So öffnet doch!», brüllte ich.«Aufmachen!»
    Schila öffnete. Der Mond war untergegangen, die schwarze Lagune hatte sein opalisierendes Licht bereits verschluckt. Eine kurze Weile flackerten auf der Wasseroberfläche silberne Lichttropfen auf. Ich zog mir den Nagel aus der Brust. Nahm mir das, was mir am meisten ans Herz gewachsen war.
    «Du befiehlst mir also zu heiraten?», fragte mich Marietta.
    «Ja, mein Funke.»

24. Mai 1594
    Achter

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