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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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würde nicht von unseren Taten abhängen - da weder unsere Taten noch der Lauf unseres Lebens unser eigenes Werk seien -, sondern von der Gnade, die wir bei der Geburt erhalten oder auch nicht erhalten haben. In diesem Fall, Herr, wäre unser Leben - und mehr haben wir nicht - nichts anderes als ein nutzloser und mühsamer Versuch, ein bereits von dir geschriebenes Schicksal zu verändern.
    Wovon ich damals überzeugt war, weiß ich nicht mehr. Doch wie alle fragte und frage ich mich noch immer, ob tatsächlich von Anfang an und in alle Ewigkeit einige die Auserwählten und andere die Gezeichneten sind. Ob unser Leben tatsächlich von Beginn an einem von dir entworfenen Weg folgt, von dem wir zwar nichts wissen, den wir aber buchstäblich notgedrungen, ja zwangsläufig gehen, oder ob es nicht vielmehr eine Abfolge zusammenhangloser Taten, ungeahnter Umwege ist, die dem Zufall oder einer passenden Gelegenheit geschuldet sind - oder gar einem Missverständnis, einem Fehler. Glück oder Pech, Reichtum oder Armut, Gaben oder keine, Erfolg oder Niederlage, Lust oder Leid, Handlungen und Ereignisse, die geschehen, aber nicht unbedingt geschehen mussten, wenn wir an einem beliebigen Tag
eine andere Entscheidung getroffen hätten, auf etwas anderes gestoßen wären oder etwas anderes gesagt hätten. Nichts bleibt erhalten, jeder einzelne Augenblick ist gleichsam das ganze Leben und birgt den goldenen Schlüssel in sich.
    Somit könnte ich behaupten, dass Mariettas Schicksal, Zuanes Flucht und die zwischen den Algen der Lagune ertrunkene Andriana mit mir nichts zu tun haben. Dass nichts, was ich getan oder gelassen habe, auf ihr Leben Einfluss genommen hat, und dass sie völlig frei entschieden haben, wo und mit wem sie leben und warum sie sterben wollten. Doch das Leid, das mir an Seele und Leib an diesen Tagen widerfuhr und das ich nicht zu lindern vermochte, trachtete nach einem Schuldigen.
     
    Auf den Fondamenta vor der Haustür warteten die beiden Cohens - sie wollten ein eiliges Geschäft mit mir abwickeln. Trotz meiner großen Erschöpfung hieß ich Schila, sie hereinzubitten, stand doch mein Haus zeitlebens offen für die, die gute Neuigkeiten, Geschäfte oder Geld mitbrachten. Schila gab zu bedenken, dass die Cohens wahrscheinlich nichts dergleichen, höchstens noch mehr Kummer und Sorgen dabeihätten. Ich versicherte ihm, dass mich in meinem Zustand nichts mehr kümmere, nicht einmal der Tod.
    Der Alte heißt Salomon, der Junge Menachem. Vater und Sohn - im gleichen Alter wie ich und mein Sohn Marco: Auch hier weiß ich nicht, ob du mir damit ein Zeichen geben willst oder ob es ein harmloser Zufall ist. Sie wohnen im alten Ghetto im letzten Stock eines turmhohen Hauses. Während der Pestepidemie hatte Salomon seinen Sohn Leone verloren, während der Pockenepidemie seinen Sohn Isaak und während das Fieber wütete seine Tochter Rebecca. Als wir einmal darüber stritten, wer von beiden, Jehova oder Jesus Christus, mächtiger sei, machte ich ihn, um ihn dazu zu bewegen, zu konvertieren und sich in die Arme des einzigen wahren Glaubens zu begeben, darauf aufmerksam,
dass sein Gott nicht so viel Macht wie meiner habe und sich weniger um sein Volk kümmere. Darauf erwiderte Cohen, dass das Volk des Christengottes ja auch nicht auf einer so verdorbenen und stinkenden Insel wie dem Ghetto lebe.
    Die beiden handeln mit Stoffen und Kleidern aus zweiter Hand und arbeiten als Pfandleiher. Marco zählt zu ihren besonders treuen Kunden, aber auch ich habe einst, als ich mich in Schwierigkeiten befand, ein Schmuckkästchen aus Elfenbein und das Silberbesteck aus Faustinas Aussteuer verpfändet. Den von unseren illustren Signori geführten Banken traue ich nicht mehr, schon so manchen habe ich an seinen übertriebenen Spekulationen scheitern sehen. Auf irgendeine Art hatte Marco das geliehene Geld bisher immer zurückgezahlt und das Pfand wiederbekommen. Dieses Mal hatte er sich verpflichtet, seine Schulden erst bis Sankt Martin und dann bis Ostern zu begleichen, aber Ostern war schon seit geraumer Zeit vorbei. Es ging um Ostern vorigen Jahres! Sie würden ihm ja einen letzten Aufschub gewähren, wenn sie könnten, und im Namen der hohen Achtung, die sie für mich hegten, würden sie auch über die Vertragsbedingungen hinwegsehen. Doch - wie sie bereits Dominico ein paar Tage zuvor erklärt hätten, der sie ein wenig widerwillig vor die Tür gesetzt habe - die Krise verschone auch sie nicht, der Preisanstieg in schwindelerregende

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