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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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Höhen der letzten Jahre hätte auch ihre Gewinne in Luft aufgelöst, die Leute würden ihre gebrauchten Kleider nicht mehr verkaufen, da sie kein Geld besäßen, um sich neue schneidern zu lassen, kurzum, auf das Geld könnten sie nun nicht mehr verzichten. Die Schuld müsse beglichen werden. Es tue ihnen leid, mich damit zu belästigen, sie vertrauten jedoch auf mein verständnisvolles Vaterherz.
    Als ihnen das Dienstmädchen ein Tablett mit Süßspeisen reichte, lehnten sie dankend ab, denn Juden dürften nicht gemeinsam mit uns essen. Ich ließ es trotzdem auf dem Tischchen abstellen. Die Häscher können uns nicht sehen, Gott allein sieht durch die Mauern meines Hauses hindurch. Die beiden Juden rührten die
Süßigkeiten jedoch nicht an. Ich fragte sie nach dem Umfang von Marcos Schuld. Die geliehene Summe belaufe sich auf siebzig Dukaten - mit äußerster Gewissenhaftigkeit zeigte mir der alte Salomon das Rechnungsbuch. Unter Berücksichtigung der Zinsen seien es, wie ich eindeutig feststellen könne, inzwischen zweihundert.
    Die in schöner Handschrift gezeichnete Unterschrift, Marco Robusti , empörte mich. Mein Sohn besitzt nicht die geringste Achtung vor Geld. Genauso wie ich. Ich lehrte meine Söhne, es zu verachten, und nicht, sich ihm auszuliefern. Doch es gibt einen Unterschied. Geld, das ich nicht verdient hatte, habe ich auch nicht ausgegeben. Nie habe ich etwas gekauft, das ich nicht bezahlen konnte. Ich sah weder einen rechtlichen noch moralischen Grund, seine Schulden zu bezahlen. Marco ist volljährig - und für sein Leben und seine Schulden verantwortlich. Zwar ist er noch mein Sohn, doch so alt, dass er selbst Vater sein könnte: Im Februar ist er zweiunddreißig geworden. Für einen erwachsenen Mann ist Unabhängigkeit eine Pflicht. Stets habe ich ihn versorgt, behütet und seine Fehler wiedergutgemacht. Wenn ich ihm immer wieder helfe, was tut er dann, wenn ich nicht mehr da bin? An wen wendet er sich? An den Bruder? Mein treuer Dominico wird sich bereits um seine Mutter, seine Schwestern und sich selbst kümmern müssen. Man kann nicht verlangen, dass er sich auch noch um Marco sorgt.
    In aller Seelenruhe teilte ich dem alten Salomon mit, dass die Schuld nichts mit mir zu tun habe. Menachem gab mir zu bedenken, dass mein Sohn folglich den Gegenstand verliere, den er als Pfand vergeben habe. Ich erwiderte, dass Marco, wenn er die Gesetze der Menschen respektieren lerne, vielleicht auch die Gesetze Gottes achten lerne.
     
    Nun aber sinniere ich unentwegt über das Verhältnis zwischen Vater und Kind, Erzeuger und Erzeugnis nach. Haben Kinder tatsächlich
etwas mit uns zu tun? Sind sie wirklich Wachs, das wir modellieren, weiße Seiten, die wir beschreiben, leere Leinwände, die wir bemalen? Oder sind es Regentropfen auf einer Fensterscheibe, die aus derselben Wolke fallen und in unterschiedliche Richtungen gleiten? Sind Kinder formbarer Lehm oder Wasser, das die Form seines Behälters annimmt, uns schleift und prägt? Gehören Kinder uns oder nur sich selbst, und das von Beginn an? Ist die Art und Weise, wie wir sie großziehen, tatsächlich von Bedeutung, unsere Strenge oder Milde, unsere Liebe oder Gleichgültigkeit? Sind wir für ihre Sünden verantwortlich oder sie für unsere? Kann es sein, dass ich etwas falsch gemacht habe mit diesem verfluchten Sohn - aber ist das von Bedeutung? Heute glaube ich, dass jedes Lebewesen über den freien Willen verfügt, sich tagtäglich erneut für das Böse oder das Gute zu entscheiden und sein eigenes Wesen zu erkennen, seine Identität. Bist nicht du der Vater, und wir alle sind - für immer und ewig - Kinder?
    In jungen Jahren war Marco äußerst witzig und geistreich. Ich muss sogar gestehen, dass ich in seinem Temperament, seiner Aufsässigkeit und seinen Schurkereien etwas von mir wiedererkannte. Dennoch ist er mir zum Feind geworden. Unser Leben hat sich in einen Kampf verwandelt, der erst mit dem Verschwinden des einen oder anderen beendet sein wird. Doch Marco wird gegen Dominico kämpfen, wie er gegen mich gekämpft hat - da er mich in seinem Bruder wiedererkennt -, woran ich ihn nicht hindern kann. Ich war gerecht zu meinem Sohn. Ich habe versucht, ihm mit gutem Beispiel voranzugehen - und Marco hat versucht, sich von mir abzuheben, anders zu sein als ich. So ist er letztendlich zu meinem unbeugsamsten Widersacher geworden.
    Ich setzte mich mit meinen Gegnern immer mit Witz und Verstand auseinander - Marco traf sich mit ihnen unter Brücken

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